Der Riss im Raum
Mühe, über die Steinmauer zu klettern, die den Obstgarten umgab; er wirkte geradezu ungeschickt.
»Sie macht sich Sorgen, weil ich so rasch außer Atem komme.«
»Und worauf führt sie das zurück?« fragte Meg ängstlich.
Charles schlurfte langsam durch das hohe Gras. »Sie spricht mit mir nicht darüber. Ich nehme bloß ihre – ihre unbewußten Signale auf.«
Sie gingen jetzt Seite an Seite. Meg war groß für ihr Alter, er klein für das seine; sie gaben ein ungleiches Paar ab.
»Manchmal glaube ich, es wäre besser, du würdest nicht so empfänglich für diese Signale sein.«
»Das klappt nicht. Ich tu’s doch nicht mit Absicht, Meg. Es kommt ganz von selbst. Mutter meint, irgend etwas ist mit mir nicht in Ordnung.«
»Aber was?« rief sie.
»Das weiß ich nicht.« Charles sprach ganz leise. »Jedenfalls ist es so arg, daß ihre Angstsignale voll zu mir herüberkommen. Und ich spüre ja selbst, daß mit mir etwas nicht stimmt. Es kostet mich schon Mühe, so wie jetzt durch den Garten zu gehen, und das ist bedenklich. Diese Beschwerden hatte ich noch nie.«
»Seit wann spürst du sie?« wollte Meg wissen. »Bei unserer Wanderung am Wochenende warst du doch noch ganz fit.«
»Stimmt. Also, ich bin schon den ganzen Herbst irgendwie – müde; aber wirklich schlimm wurde das erst im Lauf der Woche; und heute geht es mir wesentlich schlechter als gestern … He, Meg, hör auf, dir Vorwürfe zu machen, weil du bisher nichts bemerkt hast!«
Wieder hatte er ihre Gedanken erraten! Plötzlich wurde ihr ganz kalt vor Angst, und rasch versuchte sie, dieses Gefühl wieder abzuschütteln, denn Charles konnte in ihren Empfindungen noch deutlicher lesen als in Mutters Sorgen.
Er hob einen Apfel auf, der im Gras lag, versicherte sich, daß er nicht wurmig war und biß herzhaft hinein.
Die Sonnenbräune täuschte; sein Teint war fahl. Warum waren ihr auch nie die Schatten unter seinen Augen aufgefallen? Weil sie alle Symptome absichtlich übersehen hatte! Es war bequemer gewesen, seine Blässe und die Lethargie den Problemen zuzuschreiben, die er seit dem Schuleintritt hatte.
»Warum fragt Mutter nicht einen Arzt?«
»Hat sie doch ohnehin.«
»Wann?«
»Heute.«
»Und das sagst du mir erst jetzt?«
»Die Drachen waren mir wichtiger.«
»Charles!«
»Bevor du von der Schule gekommen bist, war Dr. Louise Colubra bei uns und aß mit Mutter zu Mittag. Sie taucht in letzter Zeit übrigens häufig auf … «
»Weiß ich doch. Weiter!«
»Tja, sie nahm mich von Kopf bis Fuß unter die Lupe.«
»Und was sagt sie?«
»Nicht viel. Ihr kann ich nämlich nicht so ohne weiteres ins Hirn blicken wie Mutter. Sie ist wie ein kleiner Vogel: ständig flattern ihre Gedanken hin und her. Dabei spüre ich genau, daß ihr messerscharfer Verstand pausenlos im Einsatz bleibt – sozusagen auf einer anderen Ebene. Dr. Louise versteht es ausgezeichnet, sich von mir abzublocken. Ich bekam nicht mehr heraus, als daß sie Mutters Verdacht im Grunde bestätigt – und den kenne ich nicht. Immerhin versprach Dr. Louise, sich wieder zu melden.«
Sie hatten indessen den Obstgarten durchquert, und Charles Wallace kletterte wieder auf die Mauer, um Ausschau zu halten. Auf der anderen Seite lag die große obere Wiese – ein Stück Land, das sich selbst überlassen blieb und aus dem zwei große Urgesteinsbrocken ragten.
»Sie sind fort«, stellte er fest. »Meine Drachen sind nicht mehr da.«
Auch Meg war auf die Mauer geklettert und stand jetzt neben ihm. Nichts Auffälliges war zu erkennen. Der Wind blies Wellen ins sonnengebleichte Gras; der nackte Fels der beiden Klippen leuchtete rostrot in der untergehenden Sonne.
»Hast du nicht vielleicht bloß ein paar Steine gesehen? Oder Schatten?«
»Sehen Steine oder Schatten wie Drachen aus?«
»Nein, aber … «
»Meg, sie standen dort drüben, zwischen den Felsen. Dicht aneinandergedrängt; ein einziger Klumpen von Flügeln, ja, von Hunderten Flügeln. Und dazwischen viele, viele Augen, aus denen sie mich anblinzelten. Und ein bißchen Rauch und ein paar kleine Flammen. Ich rief den Drachen zu, sie sollten vorsichtig sein und nicht das Gras anzünden.«
»Und?«
»Sofort hörten sie auf, Feuer zu spucken.«
»Bist du zu ihnen hinübergelaufen?«
»Das schien mir nicht ratsam. Ich blieb hier auf der Mauer und habe die Drachen lange beobachtet. Sie schlugen ständig mit den Flügeln und guckten mich aus ihren zahllosen Augen an. Und dann scharten sie sich irgendwie enger
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