Der Riss
sich.
Er hörte Jessica reden, dann jemanden antworten. Die durch das Fenster gedämpfte hohe Stimme erinnerte Jonathan an einen Moskito, der unter Glas gefangen saß.
Sein Herzschlag beruhigte sich ein wenig. Wahrscheinlich nur Beth. Er reckte seinen Kopf, um hineinzuspähen.
Die beiden saßen auf dem Bett, Eltern waren keine zu sehen. Jessica war angezogen, ihre kleine Schwester trug einen Schlafanzug. Beth redete immer noch und wedelte hektisch mit den Händen durch die Luft, als ob sie einen Angriff von Stubenfliegen abwehren wollte. Jonathan sah, wie Jessica zu ihrer Nachttischlampe hinüberschielte, auf der nicht zu übersehen war, dass Mitternacht unweigerlich näher rückte.
Warum wurde Jessica sie nicht einfach los? Da Beth morgen zur Schule musste, war es für sie doch längst Zeit, ins Bett zu gehen.
Jonathan hob eine Faust zum Fenster hoch und wappnete sich, zu klopfen. Jessica war gewiss nicht erfreut, dass er sich vor ihrer kleinen Schwester ankündigte, vor allem nicht in der letzten Nacht ihres Hausarrestes. Beth würde ihren Eltern aber nichts verraten – so uncool war Jessicas kleine Schwester nicht.
Außerdem standen jetzt wichtigere Dinge auf dem Spiel.
Aus den Nachrichten wussten sie, dass Cassie Flinders dreizehn Jahre alt war, ungefähr so alt wie Anathea gewesen war, als die Darklinge sie geholt hatten. Jonathan erinnerte sich, wie klein sie gewesen und fast in dem Körper des Darklings verschwunden war, den sie ihr aufgepfropft hatten.
Cassie war natürlich kein Seher. Sie konnte die Lehre nicht lesen, die Darklinge würden sich nicht die Mühe machen, sie in einen Halbling zu verwandeln. Sie würde in der blauen Zeit nicht lange überleben, höchstens ihre Zahnfüllungen.
Er klopfte.
Beide Schwestern sprangen bei dem Geräusch auf, Beths Stimme brach mitten im Satz ab. Einen Moment lang starrte sie Jonathans Gesicht hinter dem Fenster an, dann fixierte sie Jessica mit kaltem Blick.
Als Jonathan das Fenster hochschob, hörte er sie flüstern:
„Ich hab’s doch gewusst!“
Jessica sah ihn bloß an.
„Abend, Mädels“, sagte er.
„Ebenfalls, Jonathan“, flötete Beth. „Wolltest du nur mal eben vorbeischauen?“
„Jonathan!“, grollte Jessica. „Hättest du nicht … “ Ihre Stimme brach ab.
Er kletterte hinein und sah von einer Schwester zur anderen. Beths Augen wurden zu schmalen Schlitzen, und Jess blickte kopfschüttelnd zu Boden. Er seufzte. „Tut mir wirklich leid, Beth, dass ich dich unterbreche. Aber es ist etwas passiert.
Etwas Wichtiges.“ Er sah Jessica an, um das letzte Wort zu betonen.
„Du willst heute Nacht abhauen?“, fragte Beth mit leiser Stimme, die dadurch umso schroffer klang. „Du hast nur noch einen Tag, Jess. Willst du wieder Hausarrest haben?“
„Glaub mir“, sagte Jessica, „das will ich ganz sicher nicht.“
„Hör zu, Beth, ich muss mir deine Schwester nur für … “, er warf einen Blick auf die Uhr, „… achtzehn Minuten ausleihen. Ich verspreche, dann ist sie wieder zurück.“
Jessica schloss die Augen, als Beths Blick zur Uhr wanderte.
„Achtzehn Minuten?“, fragte Beth.
Jonathan schluckte. Jessicas kleine Schwester hatte natürlich keine Ahnung von der blauen Zeit. Aber sie hatte eine unheimliche Art, so zu tun, als wüsste sie Bescheid. „Genau.
Mehr oder weniger.“
Jessica stand auf und nahm ihre Jacke vom Bett. „Komm, wir gehen einfach.“
„Jessica“ , winselte Beth.
„Pass auf“, sagte sie müde, „wenn du es Mom und Dad erzählen willst, nur zu. Ich hab für so was keine Zeit.“
„Jess, ich will nicht, dass du Schwierigkeiten kriegst“, flüsterte Beth mit Tränen in den Augen. „Ich will einfach nur wissen, was mit dir los ist.“
„Tut mir leid, okay?“ Jessica machte eine Pause, als ob sie um Worte ringen würde. „Aber ich muss jetzt sofort hier raus, und ich kann dir nicht sagen, warum.“
„Und du willst direkt vor meiner Nase abhauen?“ Beth verschränkte die Arme. „Dann krieg ich auch Schwierigkeiten, wenn du erwischt wirst?“
„Das ist dein Problem, Beth. Ich habe dir vor einer halben Stunde gesagt, dass du gehen sollst.“
„Kannst du’s mir wenigstens erklären, wenn du zurückkommst … in achtzehn Minuten?“
Jessica seufzte. „Verzeih. Ich würde es gern, aber ich kann nicht.“
„Hast du die Taschenlampe?“, fragte Jonathan, der schon mit einem Fuß aus dem Fenster war.
Sie klopfte an die Beule unter ihrer Jacke. „Klar, die ist hier.“
Sie
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