Der Riss
Großem mit Flügeln beinahe abgebrochen. Gleiter hatten im Unterholz Gänge gegraben. Junge und alte Darklinge versteckten sich weit draußen in der Wüste in Höhlen vor der Sonne, aber einige ihrer kleinen Lakaien hausten näher an der Stadt, wo sie sich in der Erde vergruben.
Einen Platz wie diesen mit Fokus, mit so vielen Zeichen zu belegen, brauchte Zeit. Sie mussten vor Monaten damit angefangen haben, vielleicht sogar schon sehr viel früher. Melissa und Madeleine hatten ihre Feier in der Wüste gespürt: Die Darklinge hatten nicht nur irgendwie gewusst, dass die Finsternis eintreten würde, sondern auch, wo genau sie sich ereignen würde. Was bedeutete, dass sie vermutlich auch wussten, was Dess heute herausgefunden hatte: Dieser erste Riss in der blauen Zeit würde ausfransen wie ein Riss in der Naht eines alten T-Shirts.
Vielleicht hatte es immer zu ihrem Plan gehört, dass sich die blaue Zeit eines Tages teilen würde. Aber was wäre dann?
Plötzlich erweckte etwas Rex’ Aufmerksamkeit. Eines der Bahngleise trat hervor, umgeben von einem roten Schimmer.
Er sah genauer hin, außerdem roch die Stelle äußerst seltsam.
Hier war die blaue Zeit papierdünn.
Auf dem alten Holz entdeckte er etwas Fokus, der sich zwischen den Flecken der Darklinge seltsam ausmachte. Er trat näher und entdeckte in dem halbmondförmigen Flecken die unverkennbare Spur eines Turnschuhs.
Deshalb sah es so anders aus – die andere Sorte Fokus klebte hier, die Sorte, die Rex erst in den vergangenen Wochen zu erkennen gelernt hatte.
„Beute“, murmelte er leise.
„Fünf Minuten“, verkündete Dess, die das lange Metallrohr über ihrer Schulter nervös auf und ab wippen ließ. „Wie kommt der Flammenbringer voran?“
„Bald da“, antwortete Melissa. „Sie werden aber langsamer.
Weicheier.“
„Das subtile Vergnügen eines Flugs durch die Windschutzscheibe ist nicht jedermanns Sache, Melissa“, sagte Dess.
„Sie haben noch ganze fünf Minuten bis Mitternacht, und Flyboy parkt jetzt schon!“
„Wie weit sind sie?“, unterbrach Rex.
„Noch ein paar Meilen.“
„Nicht gut.“ Er verfolgte die Spur mit dem menschlichen Fokus mit den Augen. Die schimmernden Fußabdrücke verließen die Bahnlinie und führten ins dichte Unterholz. „Hier ist sie langgegangen. Zu Fuß, nicht verschleppt.“
„Wer? Cassie?“, fragte Dess.
Rex nickte.
„Das kannst du sehen?“
„Ich kann inzwischen menschliche Spuren sehen“, sagte er und deutete auf die Schienen. „Und diese Fußabdrücke sehen so aus, als wären sie während der Finsternis entstanden. Cassie muss sie hinterlassen haben.“
Dess verzog ungläubig das Gesicht. Von Melissa und Madeleine abgesehen hatte noch niemand wirklich verstanden, wie sehr er sich verändert hatte.
Rex kniete auf den Schienen und schnüffelte. Er konnte die Unsicherheit des verschwundenen Mädchens riechen, konnte die Angst am zögerlichen Abstand zwischen ihren Schritten erkennen. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, seine Hände fingen an zu schwitzen. Hier war ein Junges, schwach und bereit, sich von der Herde trennen zu lassen.
„Reiß dich zusammen, Rex“, flüsterte Melissa.
Er schüttelte sich die Jagdgedanken aus dem Kopf. „Okay, ich werde ihrer Spur folgen. Sie könnte noch in der Nähe sein.
Ihr bleibt hier. Aber schrei die letzten dreißig Sekunden laut raus, Dess.“ Er glitt den losen Schotterstreifen neben den Schienen hinunter und stürzte sich in das dichte Gestrüpp.
„Rex!“, rief Dess. „Es sind nur noch fünf Minuten! Komm zurück!“
„Lass das Theater, Rex“, rief Melissa. „Wenn Midnight eintritt und ihr Hirn wieder zu arbeiten anfängt, finde ich sie sofort.“
Rex blickte zurück. Die beiden standen in Polymetamorph, einem großen und komplexen Tridekagramm, das Dess auf einer Lichtung ausgelegt hatte, mithilfe einer Rolle Fiberglaskabel, die sie einige Nächte zuvor bei Oklahoma Telecom entwendet hatten. Das Kabel roch für Rex hell und prickelnd, wie die Dämpfe von Reinigungsmitteln, wenn sie einem in der Nase hochstiegen, und von dem dreizehnzackigen Stern, den Dess gesponnen hatte, wurde ihm schwindelig. Dadrinnen würden sie vor den Darklingen in Sicherheit sein, selbst wenn sich der Flammenbringer ein paar Minuten verspäten sollte.
„Zähl einfach für mich“, rief er hinter sich.
„Rex!“, jaulte Dess.
Ihm fiel auf, dass Melissa und sie in dem Tridekagramm so weit voneinander entfernt standen, wie es nur ging, wie zwei
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