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Der Riss

Der Riss

Titel: Der Riss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Westerfeld
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konnte, wie es jedem ordentlichen Seher zustand.
    Melissa verstand jetzt nur zu gut, was sie alle fünf in Wirklichkeit waren: Madeleines Versuch, jenes Bixby ihrer Jugend wieder auferstehen zu lassen, ein Paradies für Midnighter …
    auf Kosten aller anderen.
    „Ich lebe immer noch“, sagte Rex mit tonloser Stimme. Die menschliche Nachgiebigkeit, die er sich auf den Stufen erlaubt hatte, war wieder verschwunden.
    „Sie hätten dich fressen können“, sagte Madeleine.
    „Die Wesen, mit denen ich gesprochen habe, fressen kein Fleisch“, sagte er. „Sie fressen Albträume.“
    Sie zog eine Augenbraue hoch.
    „Mich hätten sie aber sowieso nicht gefressen. Ich rieche wie sie.“ Rex lächelte der alten Gedankenleserin boshaft zu. Er musste genau wissen, wie sehr sie das kränkte, dachte Melissa, dass ihr kleiner Seher von der Finsternis infiziert worden ist.
    In Madeleines Gesicht zuckte es. „Du schmeckst von Tag zu Tag mehr wie sie. Aber glaubst du wirklich, sie würden dir irgendetwas Brauchbares erzählen? Warum sollten sie das tun?“
    „Die Darklinge haben mir nichts erzählt “, antwortete er.
    „Sie teilen ihre Gedanken auf natürliche Weise, wie Tiere, die aufheulen, wenn sie Beute wittern. Sie wissen das, Madeleine.
    Sie hören sie ständig denken.“
    „Falls man das Denken nennen kann.“ Sie verzog das Gesicht, als ob ihre Geschmacksknospen nach fünfzig Jahren endlich mitgekriegt hätten, wie bitter ihr Tee schmeckte.
    „Nun, dann wollen wir mal sehen, ob mir dein kleines Experiment außer einer gerade noch abgewendeten Herzattacke irgendetwas eingebracht hat.“
    Sie streckte beide Hände mit den Handflächen nach oben aus.
    Melissa fing Rex’ Blick auf, und zuerst fassten sie sich an den Händen und warteten kurz, bis ihre Verbindung stabil war. Melissas Herz hämmerte. Sie erinnerte sich an jene Gedankenleserversammlung vor langer Zeit, und obwohl sie sicher wusste, dass diese Erinnerung Teil einer großen Lüge war – einer Propaganda, wie Angie gesagt hatte –, wunderte sie sich über die beruhigende Wirkung jener alten, an einem Feuer geteilten Bilder.
    Als in ihrem Geist Ruhe eingekehrt war, spürte sie, wie sie aus Rex’ finsterer Sicherheit Stärke zog. Was die Horde alter Gedankenleser in Madeleine für sie beide auch auf Lager haben mochten, sie würden sich dem gemeinsam stellen.
    „Macht schon, trödelt nicht herum“, keifte Madeleine.
    In völligem Gleichklang hoben sie ihre freien Hände, damit sie sie ergreifen konnte, um den Kreis zu schließen.

    Während Madeleine sich sammelte, verwandelte sie sich in eine Geisterversammlung.
    Wie üblich wurde Melissa von Ehrfurcht über deren Ausmaß ergriffen: Erinnerungen, die sich als schemenhafte Bilder bis in die Eiszeit zurück erstreckten, als man einen Monat gen Norden wandern musste, um die Gletscher zu erreichen.
    Zehntausend Jahre Geschichte, hunderte von Generationen, Gedankenleser zu tausenden.
    Sie drückte Rex’ Hand. Im Angesicht dieser akkumulierten Gedankenmasse war sie froh, sein finsteres Wesen neben sich zu spüren.
    „Was haben sie dir angetan?“, murmelte Madeleine. Sie versuchte sich an der schwarzen Sphäre seiner Darklinghälfte, suchte auf dieser glatten Oberfläche nach einem Angriffspunkt. Als sich die neugierigen Finger ihres Geistes niederließen, zuckte Rex’ Hand in Melissas.
    „Es ist zu deinem Besten“, murmelte die alte Frau. Ihre Konzentration wurde tiefer, ihr rasselnder Atem langsamer in Melissas Ohren.
    Es dauerte eine ganze Weile, dann schwoll Rex’ innere Finsternis an, wie etwas Bösartiges und Schweres, das allmählich zu einem Geschwür wurde. Wieder zuckten die Muskeln seiner Finger in ihrer Hand, ein trockener Geschmack keimte in seinen Denkstrukturen auf.
    Mit geschlossenen Augen beobachtete Melissa die Veränderungen, die in ihm vorgingen, und fragte sich, ob Madeleine wirklich wusste, was sie tat. Melissa konnte die Arroganz unter den vielen Erinnerungen schmecken, deren Sicherheit, mit der sie tatsächlich alles und jeden zu kontrollieren glaubten. Jemandem wie Rex waren sie allerdings noch nie begegnet.
    Dann lief bitteres Metall in ihrem Mund zusammen, wie alte Pennys auf der Zunge.
    In Rex’ Gedächtnis hatte sich eine Naht geöffnet, sein Darklingkern begann zu beben und an der Oberfläche zu reißen.
    Melissa schmeckte Madeleines Befriedigung.
    Rex gab einen schmerzerfüllten Laut von sich.
    Melissa schickte ihm beruhigende Gedanken, aber Madeleine wehrte sie ab. Du

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