Der Riss
weißt nicht, was du tust, Mädchen. Bleib weg.
Die alte Gedankenleserin wandte sich wieder an Rex, drängender, und die Finsternis in ihm begann sich zu teilen – ein schwarzer, sternförmiger Schacht ergoss sich über der geistigen Landschaft, aus dem Farbe blutete, wie die Farbe des dunklen Mondes. Bilder eines altertümlichen Samhain flossen aus seinen Gedanken: maskierte Menschen, die Viehknochen aufhäufen und anzünden, Feuer, meilenweit über die Landschaft verteilt, aus denen Schlachtgestank aufsteigt. Melissa verspürte bei dem Geruch ein Hungergefühl und erkannte, dass dies die Reaktion eines Darklings war. Bald wurde sie gierig, spürte den Jagdruf, den Wunsch zu töten.
Scheusal , flüsterte die Gedankenhorde.
Sie meinten Rex – Seher und Darkling in einem. Er entsetzte sie.
Madeleine wurde dreister, ihr Geist quetschte sich in die Risse von Rex’ Darklinghälfte. Er stieß einen kurzen Schrei aus, und seine Fingernägel gruben sich in Melissas Handfläche.
„Halt!“, flüsterte Melissa rau. „Sie tun ihm weh.“
Scheusal , fauchten tausend Stimmen. Die Erinnerungen der Gedankenleserin hatten etwas wie ihn nie zuvor gesehen. Er musste bezwungen, kontrolliert werden.
Aber die Finsternis in Rex wurde nur größer, schwoll an zu einer riesigen Sturmwolke in Melissas Kopf, der mehr Visionen entströmten: Bixby, wie es die Alten vor fünfzig Jahren gesehen hatten, ein geistiges, glitzerndes Mitternachtsspinnennetz über der Wüste. In den Augen der Darklinge war die Stadt ein infizierter Organismus, ein Parasit, dessen Tentakel in jede Faser seines Wirtes krochen – Gedankenleser, die sich leise vorarbeiten, Gehorsam über die Stadt verbreiten und sich ohne jeden Zweifel für die natürlichen Herrscher halten.
Sogar die Darklinge wissen, wer du bist , dachte Melissa.
Madeleine schluckte vernehmlich, als die Gedankenhorde in ihr wütete, weil sie ihr Spiegelbild in Rex’ Erinnerung erkannten. Er war ein Scheusal, und seine Gedanken waren ein Affront gegen eine zehntausend Jahre alte Geschichte.
Er musste vernichtet werden.
Madeleine durchfuhr ein Schauder des Entsetzens bei dem Gedanken, trotzdem konnte sie sich nicht entziehen. Sie konnte nicht gegen den Strom schwimmen.
„Nein“, flüsterte Melissa. Egozentrische Schwachköpfe!
Sie ignorierten sie. Sie wollte ihre Augen öffnen, nach den Händen von Madeleine und Rex greifen, um sie zu trennen, aber ihre Muskeln gehorchten ihr nicht.
Melissa spürte, wie sie vor Ekel begann, den vereinten, sinnlosen Stolz ihrer Vorfahren zu hassen. Sie konzentrierte all ihren Widerwillen – alles, was Angie über die Herrschaft der Midnighter gesagt hatte, ihre Gier und den Kinderdiebstahl und die Gedankenmanipulationen – und schleuderte ihn Madeleine mit aller Kraft entgegen.
Die Gedankenmeute bäumte sich gegen den Angriff auf und wandte sich in einer Flut vereinter Arroganz gegen sie. Sie hatten die Geheimnisse der Midnight über Jahrtausende getragen. Melissa war ein Emporkömmling, eine Waise, ein Nichts.
Wer aufsteht, muss niedergeschlagen werden.
Bevor die Meute jedoch dazu kam, lief in Melissas Mund wieder der Geschmack nach Darkling zusammen. Sie hatte sie gerade lang genug aufgehalten.
Das Wesen in Rex brodelte jetzt unaufhaltsam …
Wie eine Raubkatze strich es mitten durch die Meute bis in Madeleines eigene Erinnerungen hinein, ihre tiefsten Geheimnisse. Mit dem Instinkt des Jägers fand es ihre Ängste …
und weidete sie aus.
„Nein, Rex!“ Madeleine rang nach Luft, aber jetzt war er ein verwundetes Tier, mitleidlos und wütend. Melissa beobachtete entsetzt, wie fünfzig Jahre Schrecken aus den tiefsten Erinnerungen der alten Frau herausbrachen, jede nervöse Minute, die sie seit der Revolte der Grayfoots in ihrem Versteck verbracht hatte.
Du hast ihnen Anathea übergeben , fauchte er, und in Madeleine kamen Jahrzehnte voller Schuldgefühle hoch. Die Erinnerungsmeute wirbelte wie in einem Sturm umher, unfähig, sich in ihrem aufgewühlten Geist zu ordnen, wie Ratten in einem brennenden Haus.
Melissa konzentrierte sich. Rex, das reicht!
„Wir klopfen an deine Tür!“, sagte er laut mit unmenschlicher Stimme. „Endlich haben wir dich gefunden. Wir sind gekommen, um dich zu holen!“
Ein einziger, erstickter Entsetzensschrei kam Madeleine über die Lippen, Darklinge aus tausend Albträumen zerfetzten ihren Geist, ihre Hand zuckte einmal, dann entglitt sie Melissas.
Plötzlich schwieg die Gedankenlesermeute,
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