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Der Roman eines Konträrsexuellen

Der Roman eines Konträrsexuellen

Titel: Der Roman eines Konträrsexuellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Umgebung der Stadt; er führte mich durch die vom Mond beschienenen Felder, und wir erfreuten uns des vollkommenen Glücks.
    Er wollte mir auch seine Freundschaft zeigen und mir beweisen, daß er an mich ebenso dachte wie an sich selbst. Eines Tages sprang er bei einem unserer Regimentsmärsche über einen sehr breiten Graben, um mir eine Weintraube zu pflücken, nach der ich Verlangen trug; kurz, niemals sind wahre Liebende so glücklich gewesen und haben eine größere Leidenschaft im Herzen getragen, als es die unsrige war. Die schreckliche und verfluchte Glut, die seit meiner Kindheit in mir brannte, hatte endlich ihren Weg gefunden und ein unschuldiges Wesen, das für seine Fehler nichts konnte und das allein meine verdammte Leidenschaft angesteckt und vergiftet hatte, mit sich fortgerissen. Ich habe mir oft Vorwürfe gemacht, einen jungen Menschen, der vielleicht von diesen Leidenschaften keine Ahnung hatte, auf solche Abwege getrieben und durch mein Beispiel demoralisiert zu haben. Dennoch dachte ich damals an nichts und fand mein Betragen nicht tadelnswert. Erst später haben mich die Gewissensbisse gepackt und habe ich meinen und seinen Fehltritt bitter bereut.
    Unsere Militärzeit näherte sich fast ihrem Ende, und – was ich ein Jahr zuvor nicht für möglich gehalten hätte – ich sah mit wahrhaftem Schrecken den Augenblick meiner Abreise kommen. Der Gedanke, mich für lange Zeit, vielleicht für immer, von meinem Freund trennen zu müssen, war mir unerträglich, und oft weinten wir nachts zusammen darüber. Er hatte noch mehrere Jahre zu dienen und sah mit Schmerzen den Augenblick kommen, wo er allein und einsam da zurückbleiben würde, wo er einen Freund gehabt hatte, der so leidenschaftlich an ihm hing.
    Ich will Ihnen nicht erzählen, was wir damals alles litten, auch will ich Ihnen nicht von den Tagen sprechen, die unserer Abreise vorausgingen. Ich hatte meine Kameraden in der letzten Zeit stark vernachlässigt, und obwohl sie nichts ahnten, sahen sie doch mit Verdruß, daß ich ihnen einen jungen Mann vorzog, den sie nicht für ebenbürtig erachteten.
    Endlich kam der schreckliche Tag; wir sagten uns in unserem Zimmer Lebewohl, in dem wir so schöne Stunden erlebt hatten, und ich schob meine Abreise auf, um mich noch ein letztes Mal meines teuren, geliebten Freundes erfreuen zu können. Ich ließ ihm alles da, was ich an Geld besaß, gab ihm mehrere Souvenirs, wobei ich ihm nahelegte, mir so oft wie möglich zu schreiben. Er versprach es mir, und ich reiste endlich ab.
    Bei meiner Rückkehr ins Elternhaus empfand ich eine schreckliche Leere, die Familiengewohnheiten erschienen mir unerträglich. Alle bereiteten mir den liebevollsten Empfang, und ich wurde auf die zärtlichste Weise verhätschelt. Meine Nerven waren wie gebrochen, eine unbesiegbare Melancholie hielt mich beständig in ihrem Bann. Ich hatte Nerven- und Fieberanfälle, die so stark wurden, daß man mir für einige Zeit Luftveränderung anriet und ich mich nach dem Süden Italiens begab. Alles war umsonst, mein einziger Trost waren die Briefe, die ich von Zeit zu Zeit erhielt.
    Doch zu Ende des dritten Monats kam ich wieder vollständig zu Kräften und begann von neuem, mich mit Malerei und Literatur zu beschäftigen, die mich sehr interessierten. Das Bild meines Freundes verblaßte bald und verlor all seinen Zauber und seine Lebendigkeit. Er schrieb mir noch einige Male, doch ich antwortete in immer längeren Abständen und mit immer kühleren Briefen. Bald hörte er auf, mir zu schreiben, und ich war darüber nicht allzu böse. Sechs Monate nach meiner Abreise wechselte sein Regiment die Garnison, und er wurde von einem betrunkenen Kameraden, der wegen des Dienstes einen Streit mit ihm gehabt hatte, durch einen Pistolenschuß getötet. Er starb sofort auf der von Fichten gesäumten Landstraße, die sich von der Stadt zur Festung erstreckt. Sein Mörder wurde zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt. Ich habe den Tod nicht bedauert, den ich durch die Zeitungen erfuhr und dessen Einzelheiten mir von einem Unteroffizier, den ich später kennenlernte, mitgeteilt wurden. Die allzu leidenschaftliche Freundschaft, die ich für ihn empfunden hatte, hatte sich von selbst verzehrt, und es blieb davon nichts weiter übrig als die Asche. Ich hätte kein Vergnügen daran gefunden, ihn wiederzusehen, und hätte mich nur für ihn und für mich geschämt.
    Die Erde wird dieses Geheimnis bewahren, und nur diese Seiten werden es Ihnen bekannt

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