Der rostende Ruhm
klopfte. Die Sekretärin reichte eine Mappe herein.
»Es wurde soeben …«, wollte sie sagen. Aber Bergh schnitt ihr den Satz ab.
»Es ist gut! Ich weiß!« Er drückte die Tür zu und wandte sich zu Dr. Werth, der noch immer erstarrt neben dem Lichtkasten stand. Wortlos ging er an ihm vorbei, schob drei Röntgenbilder, die er aus der Mappe nahm, vor die Mattglasscheiben und riß das Diagnoseschreiben von einer den OP-Bericht zusammenhaltenden Büroklammer.
Oberarzt Dr. Werth schielte zur Seite. Drei Oberschenkelknochen, nein, der gleiche Knochen, von drei Seiten aufgenommen. In der Mitte ein großer, an den Rändern verschwimmender Fleck, den Knochen völlig überwuchernd. Dr. Werth erfaßte es mit einem schnellen Blick.
»Bitte!« sagte Professor Bergh laut. »Was ist das?«
Oberarzt Dr. Werth drehte sich herum. Ohne zu zögern, sagte er: »Unser Knochensarkom.«
»Was heißt ›unser‹?« Berghs Stimme war fordernd. »Sie sollen die Diagnose stellen, Herr Werth!«
»Wir haben doch bereits die Amputation …«
»Ich will nichts von ›wir‹ hören!« schrie Bergh plötzlich. Dr. Werth zuckte zusammen. »Ich will Sie hören! Was ist das?«
Dr. Werth trat nahe an die Röntgenbilder heran. Mit dem Zeigefinger tastete er den Schatten ab – ein Stadium weitgehender, unscharf begrenzter Knochenzerstörung. Im Tumorschatten einige wenige verkalkte Knochenbälkchen, radiär ausstrahlend.
»Ich würde es für ein osteogenes Sarkom halten«, sagte Dr. Werth langsam. Er tastete noch einmal über das Röntgenbild, als könne er auf der glatten Plattenfläche den Tumor fühlen. »Allerdings ist ohne Differentialdiagnose nicht …«
»Warum haben Sie das nicht gestern gesagt?« tobte Bergh. »Sie haben es doch gestern als ein Sarkom angesprochen, und heute …«
Er mußte tief Luft holen. Das Bewußtsein, auch vor Dr. Werth verloren zu haben, nahm ihm den Atem. Er wußte, was der Oberarzt antworten würde, und er konnte es nicht mehr ändern. Er mußte es ertragen wie Peitschenschläge, die auf einen Gefesselten niedersausen.
»Die erste Diagnose hatten Sie gestellt, Herr Professor.« Oberarzt Dr. Werth starrte auf das Lichtbild. »Ich habe keinen Anlaß gesehen, Ihre Diagnose anzuzweifeln. Sie erschien mir klar.«
»Sie war aber nicht klar! Es ist kein Sarkom – es ist eine Knochenlues! Dr. Thoma hat nicht amputiert, er hat eine Probeexzision gemacht und zur Pathologie geschickt.« Dr. Bergh lehnte sich an die Wand neben den Röntgenkasten. Das bleiche Licht lag auf seinem Gesicht wie die Blässe eines Ausgebluteten. »Wissen Sie, was das bedeutet?«
»Ich werde Herrn Thoma bis zur Entlassung beurlauben«, sagte Dr. Werth heiser. »Und wenn Sie Wert darauf legen, meinen Vertrag zu lösen, so bin ich bereit, dem zuzustimmen.«
Professor Bergh wandte sich ab. Er ging zurück zum Fenster und drehte Dr. Werth den Rücken zu. »Warum wollen Sie gehen, Herr Werth? Sie haben sich geirrt, weil ich mich irrte – das ist alles! Wir haben beide in der Diagnose etwas unterlassen – wir beide, Herr Werth – und sind somit gemeinsam in diese üble Affäre verwickelt. Ich bin dem jungen Kollegen dankbar, daß er dem Schornsteinfegermeister das wertvolle Bein rettete, das wir ihm abgeschnitten hätten! Das ändert aber nichts daran, daß sich Chef und Oberarzt irrten und von einem jungen Assistenten belehren lassen mußten!«
»Ich werde mit Dr. Thoma reden, Herr Professor. Es wird vergessen werden.«
»So etwas läßt sich nicht einfach mit Stillschweigen begraben.«
»Dann werde ich den Irrtum als meine Fehldiagnose bezeichnen …«
Professor Bergh fuhr herum. Er war versucht, auf den Oberarzt hinzustürzen, ihm die Hand zu drücken, ihn wie einen Vater an seine Brust zu pressen, vor Freude aufzujubeln wie vor einem wiedergefundenen Sohn. Aber er beherrschte sich; er strich sich nur über seine ergrauten Haare, nahm die Goldbrille ab und putzte sie umständlich.
»Sie sind ein feiner Kerl, Werth«, sagte er leise. »Mit solchen Mitarbeitern kann man etwas wagen. Ich danke Ihnen!«
Als Dr. Werth schon lange das Zimmer wieder verlassen hatte und im OP I während der Nephrektomie mit Dr. Thoma sprach, saß Professor Bergh noch immer wie versunken hinter seinem Schreibtisch und starrte an die Wand. Im Lichtkasten strahlten noch die drei Röntgenbilder in den dämmerigen Raum – ein greller Fleck mit den Schatten eines zerstörten Knochens.
Dr. Werth würde alles regeln. Bergh wußte es. Aber er wußte auch, daß
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