Der rostende Ruhm
er sich an diesem Tag Dr. Werth in die Hände gegeben hatte. Mehr noch – er war abhängig geworden, wenn der Oberarzt die Schuld auf sich nahm.
Bergh schloß die Augen und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.
Er war das geworden, als was man ihn engagiert hatte: ein leuchtendes, berühmtes Aushängeschild. Weiter nichts. Eine chirurgische Reklame. Ein Name in Goldschrift, das in Wahrheit nur Double war.
Ein Chefarzt, der heimlich lernend auf die Hände seines Oberarztes schielte.
Artur Sporenka wollte gerade sein Büro verlassen, als das Telefon rasselte.
Er hatte sich wieder über die Schlagzeile der morgigen Ausgabe geärgert. Sie war so milde gewesen, daß er fürchtete, seine Galle würde vor Ärger platzen. »Alles muß man hier in diesem Saftladen selbst machen!« hatte er gejammert. »Ich bin von Redakteuren umgeben, die noch mit 'nem Schnuller im Mund schreiben!« Dann hatte er die Schlagzeile selbst entworfen, knallig wie immer, jenseits des guten Geschmacks, aber davon lebte der ›Wiener Morgengruß‹ und hielt seine Abonnenten fest.
»Chefredaktion!« schrie Sporenka in den Apparat. Er erwartete wieder eine journalistische Niete, wie er alles nannte, was von den Reportern hereinkam. Um so mehr war er verblüfft, als er den Namen Professor Berghs hörte.
Er warf seinen Hut auf den Tisch und setzte sich.
»Fräulein Orth hat mir alles erzählt«, sagte er, bevor Bergh nach Nennung seines Namens sprechen konnte. »Sie war begeistert und zugleich bedient – wie man so bei uns sagt, hahaha! Wenn die an den Leichenkeller denkt! Kind, habe ich gesagt – schreib darüber 'ne Geschichte wie Edgar Allan Poe. Vielleicht wirste auch so berühmt! Aber was sagt die Holde? ›Ich habe die Nase voll. Ich gehe ins Bett! Mit vier Schlaftabletten träum ich hoffentlich nicht von den gelben Füßen und den Zetteln daran …‹«
»Sie ist also nicht im Hause?« fragte Professor Bergh schnell, um den Redefluß Sporenkas zu unterbinden.
»Nein. Sie liegt im Bettchen.«
»Vier Schlaftabletten sind ja verrückt!«
»Sie hat ein starkes Herz. Sonst hielte sie es bei mir auch nicht aus, hahaha!« Sporenka lachte wiehernd. Er lachte gerne über eigene Witze. Und da seine Witze selten waren, genoß er die wenigen Augenblicke des Selbsthumors ausgiebig und fast masochistisch.
»Wo wohnt Fräulein Orth?«
»Im XX. Bezirk, Gerhardus-Gasse 194.«
»Danke.«
Ehe Sporenka noch etwas sagen konnte, hatte Professor Bergh aufgelegt. Der Chefredakteur kratzte sich mit dem Telefonhörer die Schläfe. »Sieh an, sieh an«, sagte er grinsend. »Die Schlagzeile lege ich mir auf Eis: Medizin und Journalismus vor dem Traualtar!« Artur Sporenka sah sinnend auf seinen auf dem Tisch liegenden Hut. »Ich fresse dich auf«, sagte er bedächtig zu ihm, »wenn ich nicht in spätestens einem Jahr damit zehntausend neue Abonnenten bekomme …«
Das Haus Nummer hundertvierundneunzig in der Gerhardus-Gasse, in der Nähe der Kirche St. Brigitte, war ein schmales Miethaus mit abblätterndem Putz und seit Jahren nicht gestrichenen Fensterrahmen. Es stand wie ein Fremdkörper in der Reihe der anderen gepflegten Häuser, sehr zum Ärger der Leute aus der Gerhardus-Gasse. Aber der Hauswirt wohnte in Linz und kam nur jedes halbe Jahr nach Wien, kassierte vom Hausmeister die Miete und sagte allen, die ihn ansprachen und es wissen wollten:
»Solang mei Haus Miete bringt, ist's gut! Bringt's nix mehr – no jo, dann is immer noch'n Tag, um zu überlegen. Jetzt aba überleg i nix gern …«
Seit diesem Tage hieß die Nummer hundertvierundneunzig in der Gerhardus-Gasse das ›Nix-Gern-Haus‹, ein Titel, den die Bewohner nach anfänglicher Empörung wie eine Ehrung trugen.
Professor Bergh verließ seinen Wagen in einer Querstraße und ging zu Fuß die Gerhardus-Gasse hinab. Vor dem Haus hundertvierundneunzig blieb er stehen, sah die abbröckelnde Fassade hinauf und beugte sich dann über die Klingelschilder an der Haustür.
G. Orth. 5. Etage.
Er trat wieder zurück und sah empor. Die fünfte Etage war dunkel. Wenn Artur Sporenka richtig Auskunft gegeben hatte, lag Gabriele Orth jetzt schon im Bett und schlief mit Hilfe von vier Schlaftabletten tief und traumlos.
Warum er eigentlich hinaus in den zwanzigsten Bezirk gefahren war, warum er Gabriele Orth sprechen wollte, das konnte sich Professor Bergh selbst nicht eindeutig und vor allem logisch erklären. Nachdem Oberarzt Dr. Werth ihn verlassen hatte und er zu der niederschmetternden
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