Der rote Prophet
Ein Vogel? Ein Fisch? Ein Falke oder ein Adler? Eine Biene oder eine Wespe? Der Schamane erzählte einem Geschichten und half dabei, den eigenen Aufwachnamen auszuwählen. Die Mutter und die Schwestern gaben nun den Kindern des Aufgewachten Namen, ob sie schon geboren worden waren oder nicht.
Lolla-Wossikys sämtliche Brüder waren schon vor langer Zeit ihren Traumtieren begegnet. Nun war seine Mutter tot, seine beiden Schwestern waren fort und lebten bei einem anderen Stamm. Wer sollte seinen Kindern da Namen geben?
Ich weiß es, sagte Lolla-Wossiky. Ich weiß es. Lolla-Wossiky wird niemals Kinder haben, dieser alte, einäugige Whisky-Rote. Aber Lolla-Wossiky wird sein Traumtier finden. Lolla-Wossiky wird aufwachen. Lolla-Wossiky wird seinen Aufwachnamen haben.
Dann wird Lolla-Wossiky sehen, ob er leben oder sterben soll. Wenn das schwarze Geräusch fortfährt und wenn das Aufwachen ihm nichts Neues beibringt, was er nicht schon weiß, wird Lolla-Wossiky sich im Fluß schlafen legen und sich von ihm ins Meer spülen lassen, weit weg von dem Land und dem schwarzen Geräusch. Wenn das Aufwachen ihn aber einen Grund lehrt, um weiterzuleben, dann wird Lolla-Wossiky weiterleben, ob es ein schwarzes Geräusch gibt oder nicht, wird viele lange Jahre des Trinkens und des Schmerzes durchleben, des Schmerzes und des Trinkens.
Lolla-Wossiky trank jeden Morgen vier Schlucke, vier Schlucke jede Nacht, und legte sich dann in der Hoffnung schlafen, er würde sterben können, wenn das Traumtier ihn aufweckte.
Eines Tages stand er am Ufer eines klaren Stroms, das schwarze Geräusch dicht in seinem Sehen und laut in seinem Gehör. Im Wasser stand ein großer brauner Bär. Er klatschte mit den Tatzen auf das Wasser ein und ein Fisch schoß durch die Luft. Der Bär packte ihn mit den Zähnen, biß zweimal zu und verschlang ihn. Nicht seine Gier erweckten Lolla-Wossikys Aufmerksamkeit, sondern die Augen des Bären.
Dem Bär fehlte ein Auge, genau wie Lolla-Wossiky. So überlegte sich Lolla-Wossiky, ob der Bär möglicherweise sein Traumtier war. Doch das konnte nicht sein. Das weiße Licht, das nach ihm rief, leuchtete immer noch im Norden.
Der Bär war also nicht sein Traumtier, er war ein Teil des Traums.
Dennoch konnte er vielleicht eine Botschaft für Lolla-Wossiky haben. Dieser Bär war vielleicht hier, weil das Land Lolla-Wossiky eine Geschichte erzählen wollte.
Dies war das erste, was Lolla-Wossiky auffiel: Als der Bär den Fisch mit der Schnauze fing, sah er mit seinem gesunden Auge hin und erblickte die Spiegelung des Sonnenlichts auf dem Fisch. Davon verstand Lolla-Wossiky etwas, weil er den Kopf schrägt legte, genau wie der Bär.
Dies war das zweite, was Lolla-Wossiky auffiel: Als der Bär ins Wasser blickte, um den schwimmenden Fisch auszumachen, damit er nach ihm schlagen konnte, blickte er mit dem anderen Auge hin, mit dem Auge, das nicht da war. Das verstand Lolla-Wossiky nicht. Es war sehr seltsam.
Dies war das letzte, was Lolla-Wossiky auffiel: Während er den Bären beobachtete, war sein gesundes Auge geschlossen. Und als er das Auge öffnete, war der Fluß noch da, das Sonnenlicht war noch da, die Fische tanzten noch immer durch die Luft und verschwanden wieder, doch der Bär war verschwunden. Lolla-Wossiky konnte den Bären nur sehen, wenn er sein gesundes Auge schloß.
Lolla-Wossiky trank zwei Schlucke aus dem Faß, und der Bär verschwand.
Eines Tages traf Lolla-Wossiky auf eine Straße des weißen Mannes, und unter seinen Füßen fühlte sie sich an wie ein wogender Fluß. Die Strömung des Flusses riß ihn mit sich. Er taumelte weiter, dann spürte er den Rhythmus und lief dahin, das Faß auf der Schulter. Nie schritt ein roter Mann auf den Wegen des weißen Mannes – bei trockenem Wetter war das Erdreich viel zu hart, bei Regen war der Schlamm zu tief, und die Furchen der Wagenräder griffen nach ihm wie Hände des weißen Mannes, um den roten Mann stolpern und stürzen zu lassen. Diesmal jedoch war der Boden so weich wie Frühlingsgras an einem Flußufer, solange Lolla-Wossiky in die richtige Richtung lief. Doch nicht mehr dem Licht entgegen, denn das Licht umgab ihn ganz sanft auf allen Seiten, und er wußte, daß das Traumtier sehr, sehr nahe war.
Dreimal führte der Weg über Wasser – über zwei kleine Ströme und einen großen –, und jedesmal gab es dort eine Brücke, aus schweren, großen Stämmen und kräftigen Brettern gefertigt, mit einem Dach, wie bei einem Haus des weißen Mannes.
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