Der Rote Sarg
zierlichen Figuren – Elefanten, Tiger, Clowns, Feuerschlucker und Hochseilartisten – fanden sich auf jedem Möbelstück im Raum. Pekkala hatte das Gefühl, er müsse nur einen Seufzer ausstoßen, und schon würde alles zu Boden krachen.
Die Zarin lag auf einem mit Polstern überladenen Tagesbett; ihre Beine steckten unter einer Decke, sie selbst trug die grau-weiße Uniform einer Krankenschwester des russischen Roten Kreuzes. Man befand sich im zweiten Kriegsjahr, und seitdem die Verwundeten in Scharen von der Front zurückkehrten, war im Großen Saal des Katharinenpalastes ein Lazarett eingerichtet worden, in dem sich die Zarin und ihre Töchter um die Verletzten kümmerten.
Soldaten, die in strohgedeckten Izba -Hütten aufgewachsen waren, deren Boden nur aus festgestampfter Erde bestand, wachten nun in einem Raum mit goldenen Säulen auf, gingen über glänzende Marmorböden und schliefen in leinenbezogenen Betten. Trotz des Luxus wirkten die Soldaten, denen Pekkala dort begegnet war, nicht sehr glücklich. Die meisten hätten die gewohnte Umgebung eines Militärlazaretts vorgezogen, keinem gefiel es, dass sie wie die gläsernen Zirkustiere in aller Öffentlichkeit ausgestellt wurden, um den Kriegsbeitrag der Zarin zu illustrieren.
Trotz ihrer Feindseligkeit ihm gegenüber tat die Zarin Pekkala zuweilen auch leid. Ihre deutsche Abstammung machte es ihr seit Kriegsausbruch so gut wie unmöglich, ihre Loyalität zu Russland unter Beweis zu stellen. Alles, was sie tat, wurde misstrauisch beäugt, und ihr Versuch, das Leiden anderer zu lindern, hatte nur dazu geführt, dass ihr eigenes verlängert wurde.
Pekkala allerdings war zu dem Schluss gekommen, dass dies nicht ganz zufällig geschehen war. Die Zarin fühlte sich zum Leiden hingezogen. Wann immer die Sprache auf Schicksalsschläge und Unglücksfälle kam, ging von ihr eine nervöse Energie aus. Sich um die Verwundeten zu kümmern, hatte ihrem Leben einen neuen Sinn verliehen.
Die Zarin deutete auf einen zerbrechlich aussehenden Korbstuhl. »Setzen Sie sich«, wies sie Pekkala an.
Zögernd, weil er fürchtete, der Stuhl könnte unter ihm zusammenbrechen, nahm Pekkala Platz.
»Pekkala«, sagte die Zarin, »Sie und ich, wir sind bislang nicht recht miteinander ausgekommen, aber das ist nur eine Frage des Vertrauens. Ich würde Ihnen gern vertrauen, Pekkala.«
»Ja, Exzellenz.«
»In diesem Sinne«, sagte sie und presste die verschränkten Hände auf den Bauch, als hätte sie Magenschmerzen, »möchte ich, dass wir beide in einer Sache zusammenarbeiten, die von großer Bedeutung ist. Es ist nötig, dass Sie in einer gewissen Sache ermitteln.«
»Natürlich«, antwortete Pekkala. »Worum geht es?«
Sie zögerte kurz. »Um den Zaren.«
Pekkala holte tief Luft. »Verzeihung, Exzellenz?« Der Korbstuhl knarrte.
»Sie sollen herausfinden, ob sich mein Gatte eine Geliebte hält.«
»Eine Geliebte«, wiederholte Pekkala.
»Ja.« Sie musterte ihn, ihre Lippen verzogen sich zu einem verkrampften Lächeln. »Sie wissen, was das ist, oder?«
»Ja, Exzellenz«, erwiderte Pekkala. Er wusste auch, dass der Zar tatsächlich eine Geliebte hatte. Zumindest gab es eine Frau, die seine Geliebte gewesen war. Ihre Name lautete Matilda Kschessinskaja, und sie war die Primaballerina des kaiserlichen Balletts. Der Zar kannte sie schon lange vor seiner Ehe mit der Zarin und hatte ihr sogar eine Villa in Petrograd eingerichtet. Offiziell hatte er jede Beziehung zu ihr abgebrochen. Inoffiziell, wusste Pekkala, hatte er nach wie vor Kontakt zu ihr. Er konnte nicht sagen, wie weit ihre Beziehung ging, aber er wusste, dass der Zar sie weiterhin aufsuchte und dafür eine Geheimtür an der Rückseite der Petrograder Villa benutzte, um unbemerkt einzutreten.
Pekkala hatte immer schon vermutet, dass die Zarin alles über diese andere Frau wusste. Aus dem einfachen Grund, weil der Zar nichts vor seiner Frau geheimhalten konnte. Es fehlte ihm die dazu nötige Arglist, außerdem war die Zarin viel zu misstrauisch, als dass ihr eine Affäre verborgen geblieben wäre.
»Ich bedaure«, sagte Pekkala und erhob sich, »dass ich nicht gegen den Zaren ermitteln kann.«
Die Zarin schien nur auf diesen Augenblick gewartet zu haben. »Sie können gegen den Zaren ermitteln«, sagte sie, und ihre Augen leuchteten. »Der Zar selbst hat Ihnen das Recht erteilt, gegen jeden zu ermitteln. Dies gründet also auf einen kaiserlichen Erlass. Und noch dazu habe ich das Recht, diese Ermittlungen
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