Der Rote Sarg
nicht, aber man hatte ihm erzählt, dass sich durch das gesamte Gebäude Geheimgänge zogen.
Endlich hörte er das vertraute Klacken des Schlosses. Das Holzpaneel schwang auf, und Stalin trat ein. Weder richtete er das Wort an Pekkala, noch sah er ihn an. Er hatte die Angewohnheit, erst in alle Ecken des Raums zu sehen und sich zu vergewissern, dass alles so war wie gewünscht. Schließlich ging sein Blick zu Pekkala. »Nagorski ist bei einem Unfall ums Leben gekommen?«, blaffte er. »Erwarten Sie von mir, dass ich das glaube?«
»Nein, Genosse Stalin«, antwortete Pekkala.
Das schien ihn zu überraschen. »Nein? Aber das habe ich im Bericht gelesen!«
»Nicht in meinem Bericht, Genosse Stalin.«
Unter verhaltenen Flüchen nahm Stalin an seinem Schreibtisch Platz und holte sofort seine Pfeife aus der Uniformtasche.
Außerhalb seines Büros rauchte Stalin gern Zigaretten, im Kreml aber hielt er sich gewöhnlich an seine Pfeife, so auch diesmal. Stalins Pfeifen sahen immer neu aus, so dass Pekkala annahm, dass er sie nie lange behielt und oft austauschte.
Stalin zog ein Streichholz aus einer Schachtel. Seine Art, es zu entfachen, hatte Pekkala nie zuvor gesehen. Er hielt das Streichholz mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger fest und ließ es mit Hilfe des Ringfingers über die Reibefläche schnellen. Es war eine so unübliche Methode, dass der Nichtraucher Pekkala einmal sogar mit einer Streichholzschachtel eine Stunde lang über dem Küchenausguss geübt hatte, wobei es ihm aber lediglich gelungen war, sich die Finger zu verbrennen.
In der Stille des Raums hörte Pekkala das Zischen des Streichholzes, das Knistern des angezündeten Tabaks und schließlich Stalins Atem, als er an der Pfeife zog. Stalin warf das Streichholz in einen kleinen Messingaschenbecher und lehnte sich zurück. »Kein Unfall, sagen Sie?«
Pekkala schüttelte den Kopf. Er holte ein Taschentuch heraus, trat an den Schreibtisch und breitete es vor Stalin vorsichtig aus.
Darauf lag der aus Nagorskis Schädel entfernte Bleiklumpen.
Stalin beugte sich vor, bis er mit der Nase fast die Schreibtischoberfläche berührte, und starrte auf das Fragment. »Was sehe ich da, Pekkala?«
»Einen Teil eines Geschosses.«
»Aha!« Stalin grummelte zufrieden und lehnte sich wieder zurück. »Wo haben Sie es gefunden?«
»In Oberst Nagorskis Gehirn.«
Stalin stieß mit dem Pfeifenstiel gegen das Fragment. »In seinem Gehirn«, wiederholte er.
Nun nahm Pekkala die Patronenhülse heraus, die er und Kirow in der zurückliegenden Nacht im Schlamm aufgelesen hatten. Er stellte sie vor Stalin, als vollführte er einen Zug mit einer Schachfigur. »Das haben wir ebenfalls am Tatort gefunden. Sie stammt aus derselben Pistole. Ich bin mir ziemlich sicher.«
Stalin nickte. »Deshalb brauche ich Sie, Pekkala!« Er öffnete eine graue Akte und zog das einzelne Blatt heraus, das darin lag. »Die NKWD-Ermittlerin, die diesen Bericht erstellt hat, schreibt, der Leichnam sei gründlich untersucht worden. Hier steht es.« Er hielt ihm auf Armeslänge das Blatt hin, damit er es lesen konnte. »Keinerlei Anzeichen von Verletzungen, bevor die betreffende Person vom Panzer zermalmt wurde. Wie kann eine Kugel in seinem Kopf übersehen worden sein?«
»Die Schäden am Leichnam waren beträchtlich.«
»Das ist ein Grund, keine Entschuldigung.«
»Sie sollten auch wissen, Genosse Stalin, dass das Geschoss nicht aus einer russischen Waffe stammt.«
Pekkala hatte kaum den Satz zu Ende gesprochen, als Stalins Faust auf den Schreibtisch krachte. Die Hülse sprang hoch und rollte anschließend in einem Kreis aus. »Ich hatte recht!«, brüllte er.
»Womit, Genosse Stalin?«
»Ausländer haben diesen Mord verübt.«
»Möglich«, erwiderte Pekkala, »aber das hätte ihnen kaum gelingen können, wenn sie keine Hilfe innerhalb des Landes gehabt hätten.«
»Ihnen wurde geholfen«, sagte Stalin, »und ich glaube, dass die Weiße Gilde dahintersteckt.«
Verwirrt kniff Pekkala die Augen zusammen. »Genosse Stalin, wir haben schon einmal darüber gesprochen. Die Weiße Gilde ist eine fingierte Organisation und wird von Ihrem Büro für besondere Operationen geleitet. Wie kann die Weiße Gilde dafür verantwortlich sein, wenn Sie selbst sie geschaffen haben – es sei denn, Sie haben den Befehl zu Nagorskis Tod gegeben?«
»Ich weiß sehr wohl«, erwiderte Stalin frostig, »wer die Weiße Gilde ins Leben gerufen hat, und, nein, ich habe nicht den Befehl gegeben, Nagorski zu
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