Der Rote Sarg
Kolchose wurde einem Parteimitglied ohne jegliche landwirtschaftliche Erfahrung übertragen, und in weniger als zwei Jahren war die Kolchose heruntergewirtschaftet. Das Kollektiv zerbrach, und Talias Familie zog wie so viele andere in die Stadt.
Sie bekamen Arbeit im Mos-Prov-Kraftwerk, das den Großteil von Moskau mit Strom versorgte. Das Ehepaar trat sofort der Kommunistischen Partei bei und stieg schnell auf. Vor ihrer Verhaftung waren sie mit Sonderrationen für Zucker, Tee und Zigaretten, mit Eintrittskarten für das Bolschoi-Theater und Aufenthalten in Astafijewo, dem Erholungsort außerhalb der Stadt, belohnt worden.
Laut Babajaga hatte der Vater oft davon gesprochen, wie wichtig die perekowka sei, das Umschmieden der menschlichen Seele durch Zwangsarbeit im Gulag. Pekkala fragte sich, wie der Vater das jetzt wohl sah, nachdem er selbst im Arbeitslager war. Wie viele überzeugte Kommunisten glaubten er und seine Frau möglicherweise, dass sie nur Opfer eines bürokratischen Irrtums geworden waren, der bald richtiggestellt werden würde, so dass sie in ihr altes Leben zurückkehren könnten; und für alles Leid, das sie nun ertragen mussten, würden sie eines fernen Tages, wenn die Fehler und Irrtümer korrigiert würden, reich entschädigt werden.
Die Eltern hatten sich möglicherweise nichts von dem zuschulden kommen lassen, was ihnen zur Last gelegt wurde, das hieß jedoch nicht, dass sie irrtümlich verhaftet wurden. Vielleicht waren sie von jemandem denunziert worden, der es auf ihre Wohnung oder ihr Haus abgesehen hatte, der vielleicht auf ihre Ehe eifersüchtig war oder dem sie einfach nur auf dem Weg zur Arbeit im Bus versehentlich einen Sitzplatz weggenommen hatten. Die Anschuldigungen wurden nur selten überprüft, selbst die haarsträubendsten Geschichten dienten als Vorwand für eine Verhaftung. Ein Mann war verhaftet worden, weil er Rauchkringel geblasen hatte, die im Auge seines Anklägers Ähnlichkeit mit Stalin aufgewiesen hatten.
Pekkala vermutete, dass ihre Verhaftung überhaupt nichts mit ihnen zu tun hatte und lediglich Folge der dem NKWD auferlegten Quoten war, pro Monat eine bestimmte vorgegebene Anzahl von Verhaftungen vorzunehmen.
Seitdem ihre Eltern fort waren, lebte Talia bei ihrer Großmutter. Die alte Frau hieß eigentlich Elisaweta. Den Namen benutzte sie allerdings nie und nannte sich stattdessen nach der Hexe eines alten russischen Märchens. Die Hexe lebt in einem Wald, in einem runden Haus auf riesigen Hühnerbeinen. Im Märchen war die Hexe grausam gegenüber Kindern, Talia aber konnte sich glücklich schätzen, eine so freundliche Frau wie Babajaga zur Großmutter zu haben. Das schien auch Talia zu wissen, weshalb sie beide den Namen immer mit einem schelmischen Augenzwinkern benutzten.
Als Pekkala zum ersten Mal die Wohnung betreten hatte, war ihm sofort die »patriotische Ecke« aufgefallen, wie Babajaga sie nannte. In ihr waren kleine Porträts von Stalin sowie Bilder von Lenin und Marx ausgestellt. Andere Bilder, etwa von Sinowjew, Kamenew, Radek und Pjatakow, waren entfernt worden, nachdem die jeweiligen Männer konterrevolutionärer Umtriebe bezichtigt und hingerichtet worden waren.
Die Stalin-Ecke war für alle sichtbar, nicht zu sehen aber waren die Heiligenikonen, die die Großmutter in einem Schrank neben dem Badezimmer aufbewahrte. Diese Ikonen hatten aufklappbare Holzflügel, so dass sie von allein standen. Die Holzflügel selbst waren mit Perlmuttintarsien und Silberdrähten besetzt, die im schwarzen Holz wie Musiknoten aussahen.
Talias Eltern wurden nach ihrer Verhaftung aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, auch Talias Mitgliedschaft bei den Jungen Pionieren war widerrufen worden. Dennoch trug sie weiterhin ihre Uniform, wenngleich nur innerhalb des Gebäudes, in dem sie wohnte.
»Hier ist er, Babajaga«, sagte das Mädchen und öffnete weit die Wohnungstür.
Babajaga saß an einem nackten Holztisch. In der einen Hand hielt sie eine alte Ausgabe von Rabotniza, der Frauenzeitschrift der Kommunistischen Partei. In der anderen Hand hatte sie eine kleine Nagelschere. Mit zusammengekniffenen Augen schnitt die alte Frau Teile der Zeitschrift aus. Vor ihr, über den gesamten Tisch verteilt, lagen Dutzende kleiner Schnipsel. »Na, Pekkala«, begrüßte sie ihn.
»Was schneiden Sie da aus?«
Babajaga wies mit einem Nicken auf die Schnipsel. »Sehen Sie selbst.«
Pekkala musterte die ordentlich geschnittenen Rechtecke. Auf allen konnte er den Namen
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