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Der Rote Sarg

Der Rote Sarg

Titel: Der Rote Sarg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Eastland
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Stalin lesen, manche in großen Lettern, andere so klein, dass sie kaum zu entziffern waren. Nichts anderes hatte sie ausgeschnitten – nur dieses eine Wort. »Machen Sie eine Collage?«, fragte er.
    »Sie macht Klopapier!«, verkündete Talia.
    Die Frau legte die Schere weg und sammelte mit ihren krummen Fingern die Schnipsel ein. Sie erhob sich vom Tisch und ging zu einer in der Ecke stehenden Holztruhe, die aussah wie jene, in denen man in den Sommermonaten die Decken aufbewahrte. Als Babajaga den Deckel anhob, sah Pekkala, dass sie bis oben hin mit Papierschnipseln gefüllt war, und auf allen stand Stalins Name.
    »Ich habe eine Geschichte gehört«, sagte Babajaga und ließ die Schnipsel wie Konfetti hineinrieseln. »Ein Mann ist verhaftet worden, weil die Polizei, die sein Haus durchsucht hat, auf der Toilette eine Zeitung gefunden hat. Natürlich stand Stalins Name in der Zeitung. Er steht jeden Tag drin, auf jeder Seite. Aber weil Stalins Name in der Zeitung war, und weil …« Sie verdrehte die Hand. »Weil die Zeitung für das benutzt wurde, wofür sie nun mal benutzt wurde, hat man ihn verhaftet. Er wurde für zehn Jahre nach Kolyma geschickt.« Sie lächelte Pekkala an, die Falten in ihren Wangen kräuselten sich. »Aber damit werden sie mich nicht bekommen! Trotzdem habe ich für alle Fälle« – sie deutete auf einen laminierten Pappkoffer an der Tür – »immer einen Koffer gepackt. Wenn sie einen Grund finden, dann bin ich reisefertig.«
    Pekkala betrübte weniger, dass Babajaga den Koffer bereithielt, sondern allen Ernstes glaubte, sie würde dann noch lange genug leben, um vom Kofferinhalt Gebrauch machen zu können.
    »Ich verstehe«, sagte er, »warum Sie Stalins Namen aus der Zeitung ausschneiden. Aber warum heben Sie das alles auf?«
    »Wenn ich die Schnipsel wegwerfe, könnte ich doch dafür belangt werden«, erwiderte sie.
    Talia nahm zwischen ihnen Platz und strengte sich an, der Unterhaltung zu folgen. Ihr Blick ging von Babajaga zu Pekkala und wieder zurück zu Babajaga.
    Ein- oder zweimal in der Woche lud die alte Frau Pekkala zu sich ein, weil sie wusste, dass er allein lebte.
    Auch Babajaga war einsam, aber sie sehnte sich weniger nach anderen Menschen als nach der Zeit vor der Revolution, als die Welt für sie noch einen Sinn gehabt hatte.
    »Auf, auf jetzt.« Babajaga legte Talia die Hand auf die Stirn. »Zeit, schlafen zu gehen!«
    Als das Mädchen im Bett war, lehnte sich Pekkala auf seinem Stuhl zurück. »Ich habe ein Geschenk für Sie, Babajaga«, sagte er, fasste in seine Tasche, zog zwei kleine Votivkerzen heraus und legte sie ihr hin. Er hatte sie auf dem Heimweg im Jelissejew-Laden erstanden und wusste, dass sie sie gern abbrannte, wenn sie vor ihren Ikonen betete.
    Babajaga nahm eine zur Hand, roch daran und schloss die Augen. »Bienenwachs«, sagte sie. »Sie haben die guten gekauft. So, ich habe auch was für Sie.« Sie ging in die vom Wohnzimmer nur durch einen Holzperlenvorhang getrennte Küche und kam kurz darauf mit einem verbeulten Messing-Samowar zurück. Dampfwolken stiegen wie vom Schornstein einer Miniatur-Dampflok auf. Dann holte sie ein Glas, das in einem verzierten Messinghalter steckte, sowie eine kleine angeschlagene Tasse, die, wie Pekkala anhand der verschlungenen Vogel- und Blumenmuster erkannte, von Gardner stammte. Die Porzellanmanufaktur war von einem Engländer in Russland gegründet worden, seit der bolschewistischen Machtübernahme aber hatte Pekkala vom Unternehmen nichts mehr gehört oder gesehen. Die Tasse war höchstwahrscheinlich Babajagas wertvollster Besitz. Sie stellte ihm einen Teller mit Kandiszucker und einen zweiten mit den körnigen Blättern des schwarzen Rauchtees hin – eine Geste der Höflichkeit, denn so konnte der Gast seinen Tee nachziehen lassen, sollte er ihm nicht stark genug aufgebrüht sein. Aber genau aus Höflichkeit würde Pekkala ihn nicht anrühren. Er beugte sich nur darüber und atmete den leicht teerartigen Duft des mit Kiefernholz geräucherten Tees ein, den sich Babajaga kaum leisten konnte.
    Sie schenkte ihm ein, nahm dabei das Teekonzentrat aus dem oberen Teil des Samowars und verdünnte ihn mit dem kochenden Wasser aus dem unteren Abschnitt. Sie reichte ihm das Glas. »Das Glas hat meinem Mann gehört«, sagte sie.
    Das sagte sie ihm jedes Mal, und jedes Mal nahm Pekkala es mit aller gebotenen Ehrerbietung von ihr entgegen.
    Sie zog eine Zitrone aus der Tasche ihres Schurzes, dazu ein kleines Silbermesser, mit

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