Der Rote Sarg
anzuordnen.«
»Exzellenz, ich verstehe, dass es mir im Prinzip erlaubt ist …«
»Nicht erlaubt, Pekkala. Sie sind dazu verpflichtet!«
»Ich verstehe …«, setzte er zur Erwiderung an.
Erneut unterbrach sie ihn. »Dann ist die Sache also geklärt.«
»Exzellenz«, flehte Pekkala, »worum Sie mich bitten, darf ich nicht tun.«
»Sie weigern sich also?«, fragte sie.
Pekkala spürte, wie sich die Schlinge um seinen Hals zuzog. Sich einem Befehl der Zarin zu widersetzen, käme Hochverrat gleich, worauf die Todesstrafe stand. Der Zar befand sich im Armeehauptquartier in Mogilew, fast siebenhundert Kilometer Luftlinie entfernt. Wenn die Zarin es wollte, wäre Pekkala hingerichtet, bevor der Zar überhaupt mitbekam, was geschehen war.
»Sie weigern sich?«, fragte sie erneut.
»Nein, Exzellenz.« Die Worte wollten ihm nur schwer über die Lippen.
»Gut. Es freut mich, dass wir« – die Zarin deutete zur Tür – »schließlich doch übereingekommen sind.«
E s klopfte noch einmal, allerdings hörte es sich ungewöhnlich an, so als würde jemand mit den Knöcheln über die Tür nach unten streichen.
Pekkala konnte es zunächst nicht einordnen, dann aber lächelte er. Er trat an die Tür und öffnete sie gerade in dem Moment, als das Mädchen erneut klopfen wollte. »Guten Abend, Talia.«
»Guten Abend, Genosse Pekkala.«
Vor Pekkala stand ein etwa siebenjähriges Mädchen mit Pausbacken und einem Grübchen am Kinn; sie trug Khakikleid und Khakihemd und das rote Tuch der Jungen Pioniere. Wie bei vielen Mädchen in der kommunistischen Jugendorganisation waren ihre kurzen Haare an der Stirn gerade geschnitten. Mit einem Lächeln entrichtete sie ihm den Gruß der Jungen Pioniere: Sie hatte den angewinkelten rechten Arm über die Stirn erhoben und dabei die fünf Finger geschlossen.
Pekkala ging in die Hocke, damit er mit ihr auf Augenhöhe war. »Und was führt dich heute Abend hierher?«
»Babajaga sagt, du bist einsam.«
»Und woher weiß sie das?«
Das Kind zuckte mit den Schultern. »Sie weiß es eben.«
Pekkala sah zu seinem auf dem Tisch ausgebreiteten Abendessen – die Brotscheiben und die Schale mit dem körnigen Käse. Er seufzte. »Na, Talia, ich könnte zufällig etwas Gesellschaft vertragen.«
Talia trat zurück und streckte ihm die Hände entgegen, damit er sie ergriff. »Dann komm mit«, sagte sie.
»Einen Moment«, sagte Pekkala. Er zog seinen Mantel an, der nach dem Ausflug auf das Erprobungsgelände immer noch fürchterlich aussah, obwohl er mittlerweile gereinigt worden war.
Draußen im Gang schlug ihm der Abendessensgeruch entgegen, der Dunst von gekochten Kartoffeln, Bratwürsten und Kohl.
Er fasste Talia an der Hand und ging mit ihr auf dem zerschlissenen Teppichboden durch den blassgrünen Flur zu der Wohnung, in der Talia mit ihrer Großmutter lebte.
Bis vor einem halben Jahr hatte sie mit ihren Eltern in einem großen Haus auf den mittlerweile zu den Leninbergen umbenannten Sperlingsbergen gewohnt.
Eines Nachts klopften NKWD-Leute an die Tür, durchsuchten das Haus und verhafteten die Eltern. Bis zu diesem Zeitpunkt galten sie beide als Vorzeigekommunisten, nun wurden sie nach Artikel 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches angeklagt, womit sie als »Bedrohung für die nationale Sicherheit« galten und jeweils zu fünfzehn Jahren Haft im Arbeitslager Solowetski verurteilt wurden.
Dass Talia und ihre Großmutter überhaupt so viel wussten, verdankten sie ihrem langjährigen Nachbarn Pekkala, der für sie Nachforschungen angestellt hatte. Was genau den Eltern vorgeworfen wurde, war noch nicht einmal den Akten des NKWD zu entnehmen. Stalin hatte Pekkala einmal anvertraut, wenn sich auch nur zwei Prozent der Verhaftungen als gerechtfertigt herausstellten, hätte es sich gelohnt, auch die vielen anderen Unschuldigen zu verhaften. So viele waren im vergangenen Jahr abgeholt worden – laut den offiziellen Unterlagen über eine Million –, dass es unmöglich war, auf dem Laufenden zu bleiben. Pekkala wusste allerdings, dass mehr als die Hälfte der Verhafteten bereits erschossen wurde, bevor sie überhaupt die Züge nach Sibirien bestiegen. Er brachte es jedoch nicht übers Herz, das der Großmutter zu erzählen.
Ihre Familie entstammte Bauern in der fruchtbaren Schwarzerde-Region am Altai-Gebirge. 1930 hatte die Kommunistische Partei befohlen, im Zuge der Kollektivierung den Bauernhof mit den anderen Höfen des Dorfes zusammenzulegen. Die Leitung über die neugeschaffene
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