Der Rote Sarg
dem sie einen Schnitz abschnitt, mit dem Daumen gegen die Klinge drückte und ihm hinhielt. Nachdem er ihn genommen hatte, hielt sie die Klinge in den vom Samowar aufsteigenden Dampf, damit das Silber durch den Zitronensaft nicht anlief.
»Der Zar hat sehr gern kieferngeräucherten Tee getrunken«, sagte Pekkala und drückte den Saft in sein Glas.
»Wissen Sie, was die Leute sagen, Inspektor? Die, die sich noch daran erinnern, wie es früher gewesen war? Sie sagen, der Geist des Zaren sieht durch das Smaragdauge, das Sie tragen.«
Pekkala fasste sich ans Revers. Langsam klappte er es auf, und das Auge wurde sichtbar. »Dann muss er Sie jetzt sehen.«
»Ich hätte ein schöneres Kleid anziehen sollen.« Sie lächelte und wurde rot. »Ich vermisse ihn. Ich vermisse, was er unserem Volk bedeutet hat.« Dann verschwand ihr Lächeln. »Aber das gilt nicht für sie! Nicht für die Nemka! Sie ist an vielem schuld.«
P ekkala fuhr zur Villa von Matilda Kschessinskaja. Um nicht aufzufallen, mied er den Haupteingang und ging stattdessen in die ruhige Straße an der Rückseite, wo er durch das Tor eintrat, das auch der Zar benutzte, wenn er Madame Kschessinskaja einen Besuch abstattete.
Die geheime Tür war mit Efeu überwuchert und kaum zu erkennen. Sogar die Messingtürklingel war zur Tarnung grün bemalt.
Pekkala sah sich um. Die Straße war leer, niemand hatte ihn kommen sehen. Vor etwa einer Stunde war ein Regenschauer niedergegangen, jetzt aber wölbte sich über ihm ein blassblauer Himmel. Er drückte auf die Klingel und wartete.
Es dauerte nicht lange, bis Madame Kschessinskaja erschien. Sie war klein, zierlich, hatte ein weiches, rundliches Gesicht und helle, neugierige Augen. Um die Haare hatte sie turbanartig ein Handtuch geschlungen, und sie trug eine mit Seidenbrokat geschmückte Smokingjacke, die wahrscheinlich dem Zaren gehörte. »Ich habe das Tor knarren hören«, begann sie, schnappte dann aber erschrocken nach Luft, als sie erkannte, dass es nicht der Zar war. »Ich habe Sie für jemand anderen gehalten.«
»Madame Kschessinskaja«, sagte er. »Ich bin Inspektor Pekkala, der persönliche Ermittler des Zaren.« Er fasste ans Revers, klappte es um und zeigte sein Dienstabzeichen.
»Das Smaragdauge. Nicky hat oft von Ihnen gesprochen.« Plötzlich hatte sie Angst. »O nein. Ist etwas passiert? Geht es ihm gut?«
»Es ist alles in Ordnung.«
»Was führt Sie dann hierher, Inspektor?«
»Darf ich reinkommen?«
Sie zögerte, bevor sie die Tür aufschwang und zurücktrat.
Pekkala folgte ihr in das hell erleuchtete Haus, an dessen Wänden zahllose gerahmte Programme und Plakate des kaiserlichen Balletts hingen. In der Eingangshalle steckten Pfauenfedern in einem Regenschirmständer. Pekkala erkannte einen der Spazierstöcke des Zaren, in dessen Goldband das kaiserliche Wappen graviert war.
Sie nahmen in der Küche Platz, von der sie einen Blick in den kleinen Garten hatten, wo im Schatten einer Weide eine Holzbank stand.
Sie servierte ihm Kaffee und Toast mit Aprikosenmarmelade.
»Madame Kschessinskaja«, begann Pekkala, aber dann wusste er nicht weiter. Verzweifelt sah er sie an.
»Inspektor«, sagte sie und berührte mit ihren Fingerspitzen seine grobschlächtigen Knöchel, »worum es auch immer gehen mag, ich töte nicht den Überbringer schlechter Botschaften.«
»Es freut mich, dass Sie das sagen«, erwiderte Pekkala. Dann erklärte er, warum er gekommen war. Als er am Ende seiner Geschichte angelangt war, zog er sein Taschentuch heraus und wischte sich damit die Schweißtropfen von der Stirn. »Es tut mir sehr leid«, sagte er. »Ich hätte Sie nie damit belästigt, wenn ich eine Möglichkeit gesehen hätte, mich dem Befehl zu widersetzen.«
»Ich verstehe das nicht«, sagte Kschessinskaja. »Sie weiß doch von mir. Sie weiß es seit Jahren.«
»Ja, das denke ich auch. Es ist mir ebenfalls ein Rätsel.«
Einen Moment lang schien Kschessinskaja in Gedanken versunken, dann fuhr sie sich mit der Hand über den Mund, als wäre ihr plötzlich eine Idee gekommen. »Wie gut verstehen Sie sich mit der Zarin?«
»Überhaupt nicht.«
»Dann, Inspektor Pekkala, haben diese Ermittlungen mit mir überhaupt nichts zu tun.«
»Verzeihung?«
»Es geht um Sie, Inspektor Pekkala.« Sie stand auf und trat ans offene Fenster. Im Garten strich ein Windhauch durch die Weidenzweige. »Was, glauben Sie, wird sich der Zar denken, wenn er erfährt, dass Sie gegen ihn ermittelt haben, noch dazu in einer
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