Der Rote Sarg
sich Pekkala das Dokument. Auf den ersten Blick meinte er, arabische Schriftzeichen zu erkennen. Erst dann wurde ihm bewusst, dass es sich um chemische Formeln handelte, Dutzende davon, die die Seite vollständig füllten. »Woher haben Sie das?«, fragte er.
»Ich habe es in Nagorskis Tasche gefunden.«
»Haben Sie irgendeine Ahnung, was sie zu bedeuten haben?«
»Nein«, antwortete sie.
»Wissen noch andere davon?«
Sie schüttelte den Kopf.
Er faltete das Blatt zusammen. »Ich weiß es zu schätzen, Major.«
»Dann werde ich von Ihnen hören?«
»Ja.«
Sie hielt inne, als gäbe es noch etwas zu sagen, doch dann drehte sie sich um und ging die Treppe hinunter.
Kirow trat neben Pekkala. Gemeinsam lauschten sie ihren leiser werdenden Schritten.
»Ich habe mir nie träumen lassen, dass mir diese Frau irgendwann einmal leidtun könnte«, sagte Kirow.
»Aber jetzt tut sie Ihnen leid?«
»Ein bisschen.«
»Nach Ihren Worten und Ihrem Ton zu schließen, würde ich sagen, dass Sie für sie wesentlich mehr als nur Mitleid empfinden.«
Als sie wieder im Büro waren, machte sich Pekkala über die Papierstapel her, die sich lawinenartig über seinen Schreibtisch verteilt hatten, und schichtete sie zu ordentlichen Stapeln.
»Inspektor, irgendwas bereitet Ihnen Kopfzerbrechen«, sagte Kirow nach einer Weile. »Sie räumen Ihren Schreibtisch doch nur dann auf, wenn Sie sich um etwas Sorgen machen.«
»Ich weiß nicht, ob wir uns auf sie einlassen sollen«, sagte Pekkala.
»Haben wir eine andere Wahl?«, erwiderte Kirow. »Wenn Hauptmann Samarin recht hatte und tatsächlich der NKWD in die Sache verstrickt ist, werden wir ohne sie nicht weiterkommen.«
»Ihre Bereitschaft, mit Major Lysenkowa zusammenzuarbeiten, hat nicht zufällig etwas mit …«
»Ihren Augen zu tun?«, fragte Kirow. »Diesen …«
»Genau.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Inspektor.«
»Nein«, murmelte Pekkala. »Natürlich wissen Sie das nicht.«
»Außerdem«, fuhr Kirow fort, »wissen Sie, was passiert, wenn wir Major Lysenkowa nicht die Möglichkeit geben, die Sache mit dem Genossen Stalin geradezubiegen.«
Pekkala wusste es. Das Gleiche war ihm während der Revolution passiert, als er auf dem Weg außer Landes von bolschewistischen Garden verhaftet wurde. Er musste wieder an die monatelange Einzelhaft denken, die endlosen Verhöre, die ihm so zugesetzt hatten, dass er am Ende an seiner Zurechnungsfähigkeit gezweifelt hatte. Und dann war die Winternacht gekommen, in der er in seiner fadenscheinigen Gefängniskleidung zu einem Bahnhof in einem Moskauer Außenbezirk und zu einem Zug gebracht worden war, der ihn nach Sibirien bringen sollte.
N ie würde er vergessen, wie die Leute im Stehen gestorben waren.
Als sich der Gefangenentransport ETAP-61 nach Osten zum Arbeitslager Borodok in Bewegung setzte, hatte Pekkala keinerlei Hoffnung mehr, die Heimat je wiederzusehen. Der Zug bestand aus über fünfzig Waggons. In jedem waren achtzig Männer untergebracht, zusammengepfercht auf einem Raum für höchstens vierzig.
Es war so eng, dass sich niemand setzen konnte. Die Gefangenen wechselten sich ab, wer in die Mitte durfte, wo es wegen der dicht an dicht stehenden Körper am wärmsten war. Die Gefangenen trugen nur ihre verschmutzte, beigefarbene dünne Kleidung. Jede Nacht erfroren welche. Die Leichname blieben aufrecht zwischen den noch Lebenden stehen, ihre Lippen liefen blau an, eisige Spinnweben überzogen die Augen, und am Morgen waren sie von weißen Kristallen bedeckt.
Das Gesicht gegen die winzigen, mit Draht gesicherten Öffnungen gepresst, sah Pekkala hinaus auf die Städte Swerdlowsk, Petropawlowsk und Omsk. Orte, die ihm immer als unwirklich erschienen waren, bis er ihre Namen auf den blau-weiß emaillierten Bahnsteigschildern entzifferte. Orte, die für ihn immer dazu bestimmt waren, hinter dem Horizont zu liegen, und die man – wie Sansibar oder Timbuktu – nur in Träumen aufsuchen konnte.
Der Zug durchquerte nach Einbruch der Dunkelheit diese Städte, damit die Einwohner nichts von der Ladung mitbekamen. In Nowosibirsk erhaschte Pekkala einen Blick auf zwei Männer im fahlen Licht einer Schenke, deren Tür offen stand. Er glaubte, sie singen zu hören. Draußen fiel Schnee, als rieselten Diamanten vom Himmel herab. Dahinter zeichneten sich die Silhouetten der Zwiebeltürme orthodoxer Kirchen in der blau-schwarzen Nacht ab. Und später, als der Zug wieder durch die Dunkelheit fuhr, die so vollständig war,
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