Der rote Tod
beruhigen und sogar ihre Gedanken verändern, falls nötig.
Aber dies erschien mir verabscheuungswürdig, denn es bedeutete, dass ich momentan gezwungen sein würde, die verhasste Regel meiner Mutter, »es zu ihrem eigenen Besten zu tun«, zu übernehmen.
Wenn es sein musste, dann sollte es so sein. Ich brauchte sie. Gewiss würden sie mir vergeben, genau, wie ich Nora vergeben hatte. Wenn das passierte, um so besser, aber falls nicht, dann musste ich irgendwie lernen, damit zu leben. Ich würde mit Freuden jede Angst in ihnen besänftigen, aber weiter würde es auch nicht gehen. Sie würden nicht meine Marionetten sein.
Als ich mich der Seitentür näherte, die den Stallungen am nächsten lag, wurde ich langsamer und überdachte ein neues Problem: Wie sollte ich in mein eigenes Haus gelangen? Da die Zeiten so schrecklich unsicher waren, hatte Vater an allen Türen und ebenerdigen Fenstern schwere Riegel anbringen lassen. Trotz der Wärme der Jahreszeit wurden diese immer von einem Diener fest verschlossen, nachdem alle zu Bett gegangen waren. Die Hitze bedeutete kein wirkliches Problem, da alle im ersten Stock oder im Dachgeschoss schliefen, wo die Fenster licht verriegelt werden mussten. Ich trat einen Schritt zurück und sah, dass sämtliche Fenster des ersten Stockwerks auf dieser Seite weit offen standen, sogar das in meinem Zimmer. Sehr praktisch – aber nur, wenn ich ein Vogel wäre und in der Lage hineinzufliegen.
Oder hineinzuschweben?
Ich wollte diesen Gedanken gleich wieder aufgeben, aber überlegte es mir anders, da die Idee eine verrückte Anziehungskraft besaß. Wenn ich mich selbst in diesen Schwebezustand versetzen konnte, sogar zu lernen vermochte, ihn zu kontrollieren...
Nein. Ich schüttelte den Kopf. Das war viel zu wirklichkeitsfremd. Und auch erschreckend. Ich würde diese Möglichkeit absolut nicht erkunden. Abgesehen davon musste es einen viel einfacheren Weg hinein geben. Ich musste nur danach suchen. Ich brauchte eine Leiter. Hatte ich nicht eine auf der Seite liegend irgendwo hinter dem Haus gesehen, oder war es vielleicht im Stall gewesen?
Ich ging um das Haus herum, erspähte die Kellertüren und versuchte es hoffnungsvoll bei ihnen. Verriegelt. Aber die Türangeln an der rechten Seite hatten ein wenig Abstand zum Rahmen. Es gab genug Spiel zwischen dem Metall und dem Holz, dass ich meine Finger hineinzwängen und probeweise daran ziehen konnte.
Zum zweiten Mal in dieser Nacht landete ich auf meinem Hinterteil. Die rechte Hälfte der Tür flog mit einem scharfen Krachen auf, als die Nägel der Türangeln aus dem Holz glitten. Ich hatte mein Gleichgewicht völlig falsch ausbalanciert oder meine Kraft nicht richtig eingeschätzt. Die Tür krachte herunter und hätte einen Höllenlärm gemacht, hätte ich sie nicht in letzter Sekunde aufgefangen. Meine Hand war gequetscht, aber nicht schlimm. Ich richtete mich auf und fluchte stumm, aber intensiv über den Schmerz, während ich die Tür gerade hoch genug schob, dass ich hineingelangte.
Es war dunkel und feucht hier. Das Erstere war überraschend für mich. Ich hatte mich so daran gewöhnt, nachts so unglaublich gut zu sehen, dass ich einen Moment lang verblüfft war. Ohne Kerze war ich dazu verurteilt, wie ein normaler Mann blind draufloszutappen, indem ich unbekannte Wagnisse auf mich nahm. Da ich keine Mittel hatte, um Licht zu machen, ging ich zurück, löste den Riegel an den Türen und drückte gegen die Hälfte mit den gebrochenen Angeln. Sie glitt mit einem unheilvollen Schaben zurück, dessen Lärm mich zusammenzucken ließ, aber die Öffnung bot mehr als genügend Licht. Nun war ich in der Lage, zur Küche hinaufzugehen, ohne über irgendetwas zu stolpern und mir den Hals zu brechen.
Da es Brauch war, das Feuer in der Küche mit Asche zu belegen, um es für das Kochen am nächsten Tag bereitzuhalten, war die Küche sehr warm. Ich beeilte mich, hindurchzugelangen, denn obwohl ich nicht regelmäßig atmete, drangen mir die in der Luft liegenden Essensgerüche in die Nase und brachten meinen Magen dazu, sich zu winden. Kurz überlegte ich, ob ich zurückkehren und eine Kerze holen sollte, entschied aber, dass es unnötig sei. Von hier aus konnte ich den Weg zu meinem Zimmer leicht finden.
Ich zog mir die Schuhe aus, bevor ich nach oben ging, und achtete dabei darauf, die quietschenden Stellen auf dem Fußboden auszulassen. Die Stille, die das Haus erfüllte, schien zu horchen. Ich hasste es, den Ausreißer zu spielen, aber
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