Der rote Tod
fertig. »Sehen Sie? Manchmal kann man es nicht vermeiden, sich in die Löwenhöhle zu begeben, aber wenn man das tun muss, ist es besser, gut angezogen zu sein.«
»Wie kommst du darauf, dass dies eine Löwenhöhle ist?«
»Wie kommen Sie darauf, dass es keine ist?«
»Exzellenter Punkt. Geh zu Elizabeth, ja?«
»Natürlich.«
Aus Rücksichtnahme auf meine seriöse Kleidung und mein immer noch dröhnendes Gehirn rannte ich nicht nach unten, obwohl es verlockend gewesen wäre. Den Kopf hoch aufgerichtet und mit ernstem Gesicht schritt ich langsam durch die Halle zum Salon und hielt in der Türöffnung an, wo ich darauf wartete, bemerkt zu werden.
Mutter drehte mir den Rücken zu. Also war es Deborah Hardinbrook, die aufblickte und im Gespräch innehielt. Ihr Bruder, der neben ihr saß, stand höflich auf. Mutter drehte sich mit einem ungewohnten Lächeln um.
»Ah, Jonathan. Endlich. Komm herein und lerne meine sehr lieben Freunde kennen.« Sie dirigierte uns alle durch die formelle Vorstellung.
Mit meinem besten Betragen beugte ich mich tief über Mrs. Hardinbrooks Hand und drückte meine Freude, sie kennen zu lernen, auf Französisch aus. Sie war ungefähr in Mutters Alter, mit harten Augen und Falten um ihren Mund, die vielleicht vom Lachen herrührten, aber nicht aus Freude. Sie taxierte mich schnell und effizient und machte Mutter übertriebene Komplimente über mich. Ich fühlte mich wie eine ausgestellte Statue, die nicht um ihretwillen beachtet wird, sondern als bloßer Anhang ihrer Besitzerin.
Dr. Beldon war in den Dreißigern, was ihn in meinen Augen ebenfalls ziemlich alt erscheinen ließ. Er war drahtig und dunkel, seine braunen Augen so groß und rund, dass sie aus ihren Höhlen zu quellen schienen. Sie hefteten sich auf mich, um mich einzuschätzen, ähnlich wie bei seiner Schwester, aber mit einer anderen Art von Intensität, obwohl ich nicht sagen konnte, worin der Unterschied lag. Wir verbeugten uns und tauschten die nötigen gesellschaftlichen Höflichkeiten aus.
Mrs. Hardinbrook nahm ihr Gespräch mit Mutter wieder auf und berichtete ihr ausführlich von den Mühen der Reise von Philadelphia. Zuerst hörte ich grollend und mit widerwilliger Höflichkeit zu und dann mit Interesse, denn trotz ihrer übertriebenen Art war sie amüsant. Mutter schien sich tatsächlich gut zu unterhalten. Beldon lächelte in passenden Momenten und fügte gelegentlich Kommentare hinzu. Anders als seine Schwester bemühte er sich, mich in die Konversation einzubeziehen. Lächeln. Lächeln. Lächeln.
Speichellecker, dachte ich hinter meinen eigenen verzogenen Lippen. Vater hatte mir beigebracht, diesen Menschenschlag zu erkennen und mir seiner gewahr zu werden.
»Sie sind voller Schmeicheleien und kaum etwas anderem, mein Kleiner«, hatte mein Vater gesagt. »Da sie selbst keinen Verdienst vorzuweisen haben, versuchen sie vorwärts zu kommen, indem sie andere benutzen. Nutzlose Blutsauger, die ganze Gesellschaft, die immer auf ihr eigenes Wohl erpicht sind, aber nie auf das von anderen, und mit bodenlosen Bäuchen. Lass nicht zu, dass sie dich mit schönen Worten für dumm verkaufen oder dich auf irgendeine Weise benutzen. Es hat keinen Sinn, deine Zeit mit ihnen zu vergeuden.«
Vielleicht hatte Mutter seine Stellungnahme nicht gehört oder beschlossen, sie zu ignorieren.
»Wohin wird Ihre Reise Sie schließlich bringen, Mrs. Hardinbrook?«, fragte ich, als sich eine Gelegenheit ergab.
Ihr Gesicht war strahlend und wies eine zweckmäßige Verständnislosigkeit auf.
»Wie bitte, Master Barrett?«
Ich ignorierte den Hohn in ihrer Anrede, die dazu gedacht war, mich auf eine Stufe mit unreifen Kindern zu stellen. »Ihr Zielort, Madam. Ich habe gefragt...«
»Dies ist ihr Zielort, Jonathan«, sagte Mutter bestimmt, indem sie mit einer Hand auf das Haus deutete. »Deborah und ihr Bruder sind meine Gäste.«
Dies war nicht unerwartet, aber gewiss unerfreulich. Mutters Gäste, nicht Vaters, und es wurde mit absolut keinem Wort erwähnt, wann sie abreisen würden.
»Wie reizend«, sagte ich zu ihnen, wobei mein Lächeln vollkommen echt war; denn das dicke Ende würde noch kommen, wenn Vater heimkäme, und ich freute mich auf diese Konfrontation.
Das Abendessen erwies sich weniger als Desaster, als ich angenommen hatte.
Als Elizabeth von ihrem Ausritt zurückkehrte, fing Jericho sie an den Stallungen ab und gab die Neuigkeiten weiter. Sie stürmte sogleich zum Haus.
»Wie sind sie?«, verlangte sie zu wissen,
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