Der Rote Tod
Zeit heilt viele Wunden, das stimmt. Ebenso wahr ist, dass sie auch nichts vergisst.«
»Aber ich...«
»Kein aber mehr.« Die linke Hand sank wieder nach unten. Es interessierte Kohler nicht, ob er noch weiter blutete, denn die ersten Perlen bekamen Nachschub, und eigentlich hätte er ausbluten müssen, aber der rote Saft hielt sich in seinem Gesicht und versorgte es mit einer schmierigen Maske.
Der nächste Schritt!
Die Entfernung war perfekt. Im Zuschauerraum herrschte eine angespannte Ruhe. Alle hatten die Drohung gehört, aber sie glaubten wohl nicht, dass sie in die Tat umgesetzt werden könnte. Der Verstand war nicht bereit, so etwas aufzunehmen.
»Es geht schnell, Chris, sehr schnell. Der kurze Schnitt gegen deine Kehle, dann ist es vorbei. Vielleicht hörst du noch ein leises Surren, wenn die Sehnen zerspringen, aber sonst...«
»Du wirst ihn nicht töten, Vati!«
***
Ich stand nicht mehr auf der untersten Stufe, sondern war die drei folgenden hochgegangen und hielt mich jetzt am Rand der Bühne auf, wobei ich diesen Platz als ideal empfand, denn er bot mir einen guten Überblick.
Harry Stahl wartete noch auf der Treppe. Auch er verschmolz mit der Dunkelheit. Vom Zuschauerraum hätte man schon sehr genau hinschauen müssen, um uns zu erkennen, denn dieser Bereich hier lag im Dunkeln.
Wir hielten uns zurück. Noch wies nichts daraufhin, dass Kohler seinen Kollegen töten würde. Er hatte sich ihm gegenüber gezeigt und so bewiesen, warum er der Rote Tod war.
Es rann aus den kleinen Wunden in seinem Gesicht. Das Blut schimmerte ölig auf der Oberfläche, als hätte ein alter Vampir bewiesen, dass der Lebenssaft der Menschen in ihm steckte.
Er sagte viel und machten seinem Kollegen klar, was ihm bevorstand. Wir merkten sehr genau, dass die Worte immer mehr auf ein schreckliches Ende hindeuteten. Ich ging davon aus, dass wir in den nächsten Sekunden eingreifen mussten.
Beide hatten wir unsere Waffen gezogen. Wenn er den Versuch machte, würden wir schießen. Und die Kugeln waren immer schneller als ein Mensch, auch wenn er unter dem Schutz der Hölle stand.
Er sagte noch einen letzten Satz. Zumindest stuften wir ihn so ein. Harry nickte mir zu, ich nickte zurück. Unsere Positionen waren gut. Wir wollten auch nicht feuern, ohne ihn gewarnt zu haben, aber eine andere Person machte uns einen Strich durch die Rechnung. Jemand, den wir nicht erwartet hatten.
Hanna, die Tochter des Roten Tods!
Das Mädchen hatte nicht sehr laut gesprochen, und trotzdem überaus deutlich.
Ihr Vater zuckte zusammen. Er glich jetzt einem Menschen, der brutal aus dem Tiefschlaf gerissen worden war und nicht wusste, was um ihn herum vorging. Die Realität war einfach noch zu weit weg, aber die Realität war die Bühne, und auf ihr stand jetzt eine Person mehr.
»Hanna...«
»Ja, Vati, ich bin es. Ich bin gekommen. Ich habe schon in der vergangenen Nacht gewusst, wer der Rote Tod ist. Ich habe nur nichts gesagt und gewartet – bis jetzt...«
Kohler lachte komisch auf. Es hörte sich schon künstlich an. Er bewegte auch den Kopf, sein Mund verzerrte sich, die Augen nahmen an Größe zu, und er suchte nach einem Ausweg.
»Du wirst ihn nicht töten, Vati!«, wiederholte sie.
Er hatte sich wieder gefangen. Nein, seine Tochter würde ihn nicht von der Aufgabe abhalten. Das konnte sie gar nicht. Das durfte er nicht zulassen. Es gab andere Dinge in seiner Existenz. Der Einzige, der ihm Befehle geben durfte, war der Teufel und...
»Hau ab!«, sagte er, »hau ab...«
Hanna war stark. Stärker als manche erwachsene Frau. Sie blieb so sicher stehen, als hätte sie ihre Füße an den Bühnenboden geleimt. »Nein, Vati, ich gehe nicht. Nicht allein. Du bist krank, ich werde dich mitnehmen. Wir beide müssen zur Polizei, verstehst du das? Du musst gehen und ein Geständnis ablegen. Du darfst keinen Menschen mehr töten, kein Blut mehr vergießen. Ich habe Frau Dom gefunden. Auch sie hast du getötet. Schon der vierte Mensch und...«
»Geh...!«, brüllte er. Die Hand mit dem Skalpell zuckte vor, aber Hanna blieb standhaft. Sie schaffte sogar ein Lächeln, und in ihre Augen trat ein fast träumerischer Glanz. Dass er sie auch töten konnte, daran dachte sie nicht. Hanna war zu einer jungen Missionarin geworden, die sogar den Mut hatte, ihrem Vater die rechte Hand entgegenzustrecken, als wollte sie ihn wegführen.
»Verschwinde. Zum letzten Mal!« Er schüttelte heftig den Kopf, sodass sich einige Blutstropfen von seinem
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