Der Ruf der Kalahari - Mennen, P: Ruf der Kalahari
zu dieser Bewegungslosigkeit verdammt gewesen. Jella fürchtete, sich nie mehr bewegen zu können. Aber nach einer gewissen Zeit begann ihr Blut wieder gleichmäßig zu fließen, und kurz darauf spürte sie auch wieder ihre Gliedmaßen. Sie schob sich an einen Ritz in der Scheunenwand und spähte hinaus. Alles war still. Von Lucie und Grünwald war keine Spur zu sehen. Jella wusste genau, dass es keinen Sinn hatte, einfach hinaus in den Busch zu fliehen. Selbst wenn Grünwald sie dort nicht aufspürte, würde sie sich innerhalb kürzester Zeit verirren und über kurz oder lang dasselbe Schicksal erleiden wie ihr Vater. Nein. Sie musste versuchen, sich zu den Stallungen zu schleichen, um dort an ein Pferd heranzukommen. Mit ihm würde sie versuchen, Okakarara zu erreichen.
Natürlich war die Scheunentür ebenfalls verschlossen. Jella rüttelte verzweifelt daran. Trotzig untersuchte sie jedes Brett in der Scheunenwand und hoffte, dass eines von ihnen so weit nachgeben würde, dass sie es beiseiteschieben konnte, um hindurchzuschlüpfen.
Doch der Schuppen war solide gebaut. Die Anstrengungen ihrer Befreiung, der neuerliche Schlag auf den Kopf, das Einatmen der staubigen Scheunenluft, das alles war zu viel. Jellas Kopf fühlte sich wie ein rasendes Karussell an, und dann spürte sie plötzlich, wie eine große Übelkeit in ihr aufstieg. In einer konvulsivischen Bewegung erbrach sie sich und ließ sich schließlich erschöpft auf den Scheunenboden sinken. Zusammengekauert wie ein Häufchen Elend ergab sie sich in ihr Schicksal.
Eine Schlüsselbewegung im Scheunentor ließ sie wieder auffahren. Sie überlegte, ob sie die Sense als Waffe benutzen sollte, doch dann ließ sie es bleiben. Sie war viel zu kraftlos und erschöpft, um sich sinnvoll zu wehren. Als gelernte Krankenschwester wusste sie, dass sie sich eine schwere Gehirnerschütterung eingefangen hatte, die sie stark in ihrer Reaktionsfähigkeit beeinträchtigte. So schmerzhaft die Einsicht auch war, aber Grünwald und Lucie hatten gesiegt. Mittlerweile war es ihr fast gleichgültig, was sie mit ihr machten. Aber dann sah sie Lucie. Ihr siegessicheres Auftreten und das höhnische Lächeln auf ihrem Gesicht reichten aus, um neue Wut und Empörung in ihr aufsteigen zu lassen. Unter Anstrengung raffte sie sich auf und blickte ihrer Feindin geradewegs in die Augen.
»Was wollen Sie von mir?«, fauchte sie. Kleine Sternchen tanzten vor ihren Augen. Sie musste sich konzentrieren, um Lucies Konturen auszumachen.
Mit einem abfälligen Blick deutete diese auf die zerschnittenen Fesseln.
»Du scheinst wohl nie aufzugeben. Leider wird dir auch dieser Fluchtversuch nichts nützen.«
Jella ignorierte ihre Bemerkung.
»Was haben Sie mit meinem Vater gemacht?«, wollte sie wissen. »Ist er wirklich von Löwen zerrissen worden?«
Lucie überlegte einen Augenblick, aber dann verzog sich ihr
Gesicht zu einem grausamen Lächeln. Sie schien plötzlich Gefallen daran zu haben, Jella mit der Wahrheit zu quälen.
»Wozu noch lügen?«, meinte sie kalt. »Victor hat deinen Vater in eine Falle gelockt und ihn erschlagen wie einen räudigen Hund. Seinen Leichnam hat er den Löwen zum Fraß überlassen. Wenn du so willst, ist er tatsächlich von ihnen zerrissen worden.«
Befriedigt registrierte sie, wie Jella vor Entsetzen zusammenzuckte. Vorsichtshalber zog sie ihren Revolver aus ihrer Rocktasche und richtete ihn auf ihren Kopf. Doch Jella war nicht länger nach Gegenwehr zumute. Sie sank in sich zusammen und rang um Fassung. Die Wirklichkeit war noch viel schrecklicher, als sie sie sich ausgemalt hatte. Mit einem Mal war ihr Kampfesmut wie erloschen.
»Dein Vater war ein Sturkopf wie du«, schnaubte Lucie verächtlich. »Seine Schwäche für die Schwarzen ist ihm zum Verhängnis geworden.«
Jella antwortete nicht, sondern hielt sich die Hände an die Ohren. Lucie verstand es als Aufforderung weiterzureden. Mit betont lauter Stimme fuhr sie fort.
»Wir mussten vor einiger Zeit Hals über Kopf Südafrika verlassen. Die Polizei und eine Handvoll Gläubiger waren uns wegen verschiedener Geschichten auf den Fersen. Da das Auslaufen der Schiffe kontrolliert wurde, blieb uns nur die Flucht nach Deutsch-Südwest. Wir beschlossen, hier unterzutauchen und noch mal von vorn anzufangen. Doch die Polizei in Südafrika bekam irgendwie Wind davon und schickte uns Fahnder und Detektive hinterher. Um unsere Spuren zu verwischen, trennten wir uns. Ich zog in ein Hotel in dem gottverlassenen Kaff
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