Der Ruf der Kiwis
Nagetiergesichts noch verstärkte. Ein Frettchen, dachte Gloria und schämte sich für den unfreundlichen Gedanken. Vielleicht eher ein Eichhörnchen ...
Der Mann schien zu einem Entschluss gekommen zu sein und sprach jetzt fast geschäftsmäßig. »Das ist schade. Denn es wäre schon so, dass du mir das Risiko vergelten müsstest. Wenn wir das wirklich durchziehen, was mir da gerade durch den Kopf ging, und es kommt raus ... dann sitze ich ohne Job in Kanton. Wenn der Käpt’n mich nicht gleich über Bord wirft!«
Glorias Blick umwölkte sich vor Sorge. »Darf er denn das? Ich meine ... Sie würden dann ja ertrinken!«
Der Matrose verzog das Gesicht, als kämpfe er mit Belustigung, blieb aber ernst. »Klar, darf er das, Kleine!«, behauptete er. »Auf dem Schiff hat er die absolute Befehlsgewalt, musst du wissen. Wenn er dich entdeckt, holt er dich kieloben – und mich gleich mit! Also, wie dringend willst du nach China?«
»Ich will nach Hause«, sagte Gloria kläglich. »Mehr als alles in der Welt. Aber wie soll das gehen? Soll ich mich verstecken? Wie ein blinder Passagier?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Nöö, Kleine, so viele Verstecke gibt’s nicht auf dem Kahn, dass dich da niemand fände. Und bei dem knappen Proviant, den wir mitnehmen, fällt auch jeder Esser auf. Ich dachte eher an Tarnung. Unser Smutje, der Koch, sucht einen Schiffsjungen ...«
In Glorias Gesicht ging ein Strahlen auf. »Sie meinen, ich soll mich verkleiden? Als Junge? Das kann ich, das ist kein Problem. Ich hab früher immer Hosen getragen. Als ich klein war, meine ich. Und mit der Arbeit komme ich auch zurecht. Niemand wird etwas merken!«
Der Matrose verdrehte die Augen. »Die Mannschaft müssen wir schon einweihen. Auch wegen der Vergütung. Du müsstest ... Also, wenn ich das für dich arrangiere, und alle halten die Klappe, müsstest du unterwegs schon ein bisschen nett zu uns sein.«
Gloria nickte ernsthaft. »Natürlich werde ich nett sein«, versprach sie. »Ich bin nicht zickig wie die meisten Mädchen, bestimmt nicht.«
»Und das Geld streiche ich ein, kapiert? Dafür passe ich auf dich auf. Damit sich keiner mehr nimmt, als ihm zusteht ...«
Gloria runzelte die Stirn. »Das Geld können Sie gern haben«, meinte sie großzügig. »Verdient man denn so gut als Schiffsjunge?«
Sie verstand nicht, warum der Matrose wieder dröhnend lachte.
»Du bist mir eine Marke! Dann komm, wir schauen mal, ob wir ein paar passende Klamotten für dich finden. Da hinten, bei Fisherman’s Wharf, da handelt ein Jude mit Altkleidern. Und der alte Samuel kann den Mund halten, der hat Kunden mit mehr Dreck am Stecken, als wir beide je ansammeln können. Wie heißt du überhaupt?«
»Gloria. Gloria Mar ...« Sie hielt inne, bevor sie ihren Nachnamen genannt hatte. Das alles war nicht wichtig. Sie brauchte ohnehin einen anderen Namen. Plötzlich schoss ihr der Gedanken an eins von Lilians albernen Liebesliedern durch den Kopf,
Jackaroe
. Es handelte von einem Mädchen, das sich als Mann ausgab, um ihren Liebsten jenseits des Meeres zu suchen.
»Ich heiße Jack«, sagte Gloria. Jack – ein Name, den sie auch noch mit jemand anderem verband ... Jack sollte ihr Glück bringen.
Eine Stunde später stand Gloria vor dem Smutje, einem dicken, schmierig wirkenden Mann mit ehemals weißer Schürze über der weiten Matrosenkluft. Gloria selbst war ähnlich gekleidet. Harry, ihr neuer Freund und Beschützer, hatte ihr einen weiten weißen Blouson und eine abgewetzte, locker sitzende blaue Baumwollhose ausgesucht. Dazu passte ein ebenfalls bereits abgetragener schwarzer Wollpullover. Gloria trug ihn jetzt, obwohl es warm war. Sie hatte ihr langes Haar im Kragen versteckt. Unter die Schirmmütze, die Harry ebenfalls ausgewählt hatte, passte die Fülle nicht.
»Das muss aber ab!«, erklärte der Smutje streng, nachdem er das Mädchen prüfend gemustert hatte. »Auch wenn’s schade drum ist. Wenn’s offen ist, sieht die Kleine wahrscheinlich aus wie ’n Rauschgoldengel. Aber sonst haste Recht, Harry, sie geht als Bursche durch.«
Der Mann hatte erst mit einem Lachanfall reagiert, als Harry ihm sein Ansinnen nannte – was Gloria im Übrigen überflüssig fand. Sie hätte versucht, den Smutje zu täuschen; es hätte doch genügt, wenn sie selbst und Harry Bescheid wussten. Davon schien Harry allerdings nichts zu halten. Immerhin zeigte der fette Koch sich dann willig, sein Ansinnen wohlwollend zu prüfen. Aus irgendwelchen Gründen
Weitere Kostenlose Bücher