Der Ruf der Kiwis
drinbleiben.«
Lilian runzelte die Stirn. Die Idee, Kohle einfach in der Erde zu lassen, war ihr nie gekommen und erschien ihr auch nicht allzu klug. Schließlich konnte man das Zeug teuer verkaufen. Aber Ben war natürlich ein Dichter, der sah das mit anderen Augen. Also lächelte sie milde.
»Du hast doch drei Brüder. Wollen die nicht die Mine übernehmen?«, fragte sie. »Dann könntest du weiter studieren.«
Ben nickte, allerdings mit grimmigem Gesichtsausdruck. »Die reißen sich sogar darum«, erklärte er. »Sam ist erst zwölf, aber er weiß mehr über das Geschäft als ich. Leider bin ich der Älteste ... Aber jetzt lass uns von dir reden, Lily. Du hast mich nicht vergessen?«
»Nie!«, sagte Lilian bestimmt. »Ich würde dich nie vergessen. Das war so schön in Cambridge. Und ich wollte auch wirklich kommen, ich hätte alles getan ... ausgerechnet an diesem Tag hat mein Onkel mich abgeholt. Und ich konnte nicht weglaufen, es waren dauernd Leute um mich rum. Aber jetzt sind wir ja hier.«
Ben lächelte. »Jetzt sind wir hier. Und wir könnten uns vielleicht ... also, ich meine ...«
»Du könntest noch mal gucken, welche Farbe meine Augen haben!«, meinte Lilian spitzbübisch. Dabei trat sie näher an ihn heran und sah zu ihm auf.
Ben streichelte schüchtern über ihre Wangen und legte dann den Arm um sie. Lilian hätte die ganze Welt umarmen können, als er sie küsste.
»Wer war der Junge auf dem Friedhof?«
Tim Lambert war selten streng mit seiner Tochter, aber jetzt baute er sich so drohend vor ihr auf, wie er es mit den Krücken und Beinschienen nur schaffte. Lilian saß an ihrem Schreibtisch in seinem Büro und hatte eben den Telefonhörer aufgelegt. Sie wirkte noch vergnügter und strahlender als sonst – ein geübterer Beobachter als Tim hätte ihr die Verliebtheit vielleicht angesehen. Tim hatte allerdings mehr Sinn für Bilanzen und Geschäftsabschlüsse. Einen solchen Abschluss hatte er eben in der Holzhandlung mit einem Whiskey gefeiert. Bud Winston, der Holzhändler, lieferte das Stützholz für die geplante Minenerweiterung, und Tim Lambert hatte Florence Biller einen ganzen Waggon Schalholz vor der Nase weggeschnappt. Wenn Tim gerecht sein wollte, verdankte er das hauptsächlich Lilian, denn seine Tochter hatte die Verhandlungen geführt. Aber an diesem Tag ging es ihm weniger um Gerechtigkeit als um die Gerüchte, die in Greymouth umgingen. Sie mussten bereits weit verbreitet sein, wenn die Männer um Bud Winston sie kannten. Die Holzhandlung war schließlich keine Hochburg für Klatschbasen. Und es war gerade erst elf Uhr am Montagmorgen – bis zum Nachmittag würde garantiert die ganze Stadt wissen, dass Lilian Lambert sich heimlich mit einem Jungen traf.
»Leugne es nicht, die alte Tanner hat alles gesehen. Allerdings ist sie kurzsichtig – sie hat den Knaben nicht erkannt.«
Mrs. Tanner war die Klatschbase der Stadt. Lilian empfand leichte Beunruhigung.
»Was will sie denn gesehen haben?«, fragte sie dann, so unbeschwert sie es eben schaffte. Wenn Mrs. Tanner den Kuss verfolgt hatte, war sie in Schwierigkeiten.
Tim zuckte die Achseln. »Du hast dich mit einem Jungen unterhalten. Heimlich, auf dem Kirchhof. Die ganze Stadt redet darüber.«
»Dann kann es so heimlich ja nicht gewesen sein«, bemerkte Lily und blätterte wie beiläufig in einer Akte. Im Stillen atmete sie auf.
Tim ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen. Das nahm ihm die strategisch günstige Position, doch nach der Fahrt in die Stadt war er erschöpft, und seine Hüfte schmerzte.
»Lilian, war es Ben Biller?«, fragte er dann. »Irgendjemand brachte den Namen ins Gespräch. Und mir würde sonst niemand einfallen, der vom Alter her zu dir passt.«
Lilian lächelte ihm überirdisch zu. Gewöhnlich gehörte es durchaus zu ihren Stärken, ihr Gegenüber einzuschätzen, aber jetzt war sie verliebt.
»Du findest auch, dass er zu mir passt? Oh, Daddy!« Sie sprang auf und machte Anstalten, ihren Vater zu umarmen. »Ben ist so wunderbar! So sanft, so lieb ...«
Tim runzelte die Stirn und schob sie von sich. »Er ist was? Lilian, das kann nicht dein Ernst sein! Während du drei Minuten lang zwischen ein paar Grabsteinen mit ihm herumflaniert bist, hast du herausgefunden, dass er der Mann deines Lebens ist?« Er schwankte zwischen Entsetzen und Belustigung.
»Genau!« Lilian strahlte. »Aber wir haben uns schon in Cambridge gekannt ...«
Voller Begeisterung breitete sie die Geschichte des
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