Der Ruf der Kiwis
erschießen sollst, irgendetwas getan?«
Roly kaute auf seiner Unterlippe. »Natürlich nicht, Mr. Tim«, meinte er dann. »Aber das Vaterland ... Greg und Bobby ...«
»Da rufen wohl eher Greg und Bobby als das Vaterland!«, bemerkte Tim. »Mein Gott, Roly, ich weiß ja, dass du mit diesen nichtsnutzigen Burschen aufgewachsen bist und sie deine Freunde nennst. Aber Matt Gawain ist nicht begeistert von ihnen, sie saufen mehr, als sie arbeiten. Wir behalten sie nur, weil es an Arbeitern mangelt, aber wir würden uns lieber heute als morgen von ihnen trennen. Kein Wunder, dass die Abenteuerlust sie packt – die Armee ist allemal ehrenvoller als ein Rausschmiss. Du musst da nicht mitmachen, Roly! Du hast eine sichere Stellung, jedermann schätzt dich, ein so gutes Mädchen wie Mary Flaherty wartet auf deinen Heiratsantrag ...«
»Sie sagen, ich hätte keinen Mumm!«, brach es aus Roly hervor. »Krankenbruder oder warmer Bruder, da wäre kein großer Unterschied ...«
Roly hatte den Spitznamen »Krankenbruder«, den ihm die Bergleute gegeben hatten, als er in den Monaten nach Tims Unfall als dessen Pfleger fungierte, stets mit Würde getragen. Aber an ihm genagt hatte der Spott wohl doch. Der Job eines Krankenpflegers oder auch Hausdieners galt unter den rauen Burschen der Westküste natürlich nicht viel.
»Und wegen dieses Unsinns willst du jetzt dein Leben riskieren?«, fragte Tim wütend. »Roly, das ist kein harmloses Abenteuer, das ist ein Krieg! Da wird scharf geschossen ... hast du überhaupt schon mal ein Gewehr in der Hand gehabt? Was sagt denn deine Mutter dazu?«
Roly zuckte die Schultern. »Sie ist wütend. Sie sagt, sie kapiert überhaupt nicht, warum wir da kämpfen, angegriffen hätte uns jedenfalls keiner. Also sollte ich bleiben, wo ich bin. Aber sie überschaut das nicht!«, erklärte er altklug. »Sie ist schließlich nur eine Frau ...«
Tim rieb sich die Stirn. Er persönlich hatte größte Hochachtung vor der resoluten Mrs. O’Brien, die ihre Kinder mit der Arbeit in einer Nähstube durchbrachte und dabei ein solches Geschick im Umgang mit den neumodischen Nähmaschinen zeigte, dass sie sämtlichen Damen- und Herrenschneidern der Region Konkurrenz machte. Im Stillen war er auch ganz ihrer Meinung: Wenn eine Regierung nicht fähig war, den Mrs. O’Briens unter ihren Bürgern klarzumachen, warum ein Krieg sein musste, sollte sie ihn besser nicht führen. Er dankte dem Schicksal, dass seine eigenen Söhne zu jung waren, um diesem Abenteuer zu verfallen.
»Deine Mutter trägt dich zu Grabe, wenn du fällst, Roly!«, sagte Tim drastisch. »Vorausgesetzt, dass England sich die Mühe macht, die gefallenen Neuseeländer nach Hause zu verschiffen. Wahrscheinlich begraben sie euch gleich in Frankreich ...«
»Ich war noch nie in Frankreich!«, meinte Roly trotzig. »Sie haben leicht reden, von wegen Abenteuer und so. Sie waren schon überall in Europa. Aber wir? Wir kommen doch hier nicht weg. Mit der Armee sehen wir fremde Länder ...«
Tim griff sich an die Stirn. »Haben sie euch das gesagt? Im Rekrutierungsbüro? Die Leute müssen verrückt sein! Der Krieg ist keine Ferienreise, Roly!«
»Aber er geht ja nicht lange!«, trumpfte Roly auf. »Nur ein paar Wochen, sagen sie. Und wir kommen zuerst in ein Ausbildungslager, ich nehme an, in Australien. Kann gut sein, dass der Krieg schon vorbei ist, wenn wir da fertig sind.«
Tim schüttelte den Kopf. »Ach, Roly ...«, seufzte er. »Ich wünschte, du hättest früher mal mit mir gesprochen. Schau, ich weiß ja auch nichts Genaues, aber Bergbau und Industrie ... wir richten uns auf einen jahrelangen Krieg ein, Roly. Also bitte, sei vernünftig! Hör auf Mrs. O’Brien und auf deine Mary. Die wird dir auch die Hammelbeine langziehen, wenn du ihr davon erzählst! Ich lasse morgen meine Beziehungen spielen, dann kommst du raus aus dem Vertrag. Glaub mir, das kriegen wir hin!«
Roly schüttelte den Kopf. Er wirkte ernüchtert, aber fest entschlossen.
»Das kann ich nicht, Mr. Tim. Wenn ich jetzt kneife, krieg ich in der Siedlung kein Bein mehr auf die Erde. Das können Sie mir nicht antun!«
Tim senkte den Kopf. »Also gut, Roly, ich komme ohne dich zurecht. Aber nicht auf ewig, verstanden? Du wirst gefälligst überleben, zurückkommen und deine Mary heiraten. Ist das klar?«
Roly grinste. »Versprochen!«
4
Die Menschen säumten die Straßen, winkten und jubelten den Soldaten zu, die in eher ungeordneten Sechserreihen zum Hafen zogen.
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