Der Ruf der Kiwis
Kohle zu den Überseehäfen an der Ostküste zu bringen. Tim dachte bereits lächelnd daran, wie verwirrt die Eisenbahnvertreter darauf reagieren würden, wenn Florence Biller sich den Männern nicht nur anschloss, sondern unzweifelhaft das große Wort führte. Hoffentlich tat sie nichts Unüberlegtes.
Seit der Geschichte mit Lilian und Ben hatte sich die Beziehung zwischen den Lamberts und den Billers deutlich verschlechtert. Florence schien Tim persönlich dafür verantwortlich zu machen, dass Ben immer noch Gedichte schrieb, statt sich ernsthaft für die Mine zu interessieren. Tim fragte sich, ob Florence ihren Sohn mitbringen würde. Vielleicht anstelle ihres Mannes, der sich um gesellschaftliche Anlässe gern herumdrückte. Die Lamberts hatten sich jedenfalls vorsichtshalber entschlossen, Lilian zu Hause zu lassen. Das Mädchen schmollte deshalb schon den ganzen Tag.
Roly O’Brien zeigte sich schweigsam. Gewöhnlich ließ der schlaksige junge Mann praktisch nichts unkommentiert, was ihm und seinem Herrn begegnete, und meistens hatte er auch etwas zu erzählen, wenn er sich freinahm, wie während der heutigen Bürostunden.
Seine Verschlossenheit fiel Tim schließlich auf.
»Was ist los, Roly? So verstimmt nach deinem freien Tag? Ärger mit Mary? Oder ist was mit deiner Mutter?«
»Meiner Mom geht es gut ...«, druckste Roly. »Mary auch. Es ist nur ... Mr. Tim, was meinen Sie, könnten Sie vielleicht mal ein paar Wochen ohne mich auskommen?«
Jetzt war es wohl heraus. Roly sah Tim hoffnungsvoll an. Er hatte ihm eben in seine Weste geholfen und hielt nun das Jackett bereit. Tim zog es über, bevor er antwortete.
»Planst du einen Urlaub, Roly?«, fragte er lächelnd. »Gar keine schlechte Idee, du hattest nie länger als einen Tag frei, seit du für mich arbeitest. Aber warum so plötzlich? Und wo willst du hin? Vielleicht eine Hochzeitsreise?«
Roly wurde flammend rot. »Nein, nein, ich hab Mary noch gar nicht gefragt ... ich meine, ich ... also, bevor man heiratet, sagen die anderen Jungs, sollte man doch was erlebt haben ...«
Tim runzelte die Stirn. »Welche Jungs? Bobby und Greg vom Bergwerk? Was wollen die denn Großartiges erleben, bevor sie mit ihrer Bridie oder Carrie vor den Altar treten?« Er stand auf und betrachtete sich im Spiegel des Ankleidezimmers. Wie immer störten ihn die Beinschienen – vor allem, wenn er mit Fremden wie den Vertretern der Eisenbahngesellschaft zusammenkommen sollte. Sie würden ihn anstarren, ihn und Florence Biller. Den Krüppel und die Frau ... Im Grunde sollte er ihr dankbar sein, dass sie zumindest einen Teil der allgemeinen Aufmerksamkeit von seiner Behinderung lenkte.
»Bobby und Greg gehen zur Armee«, bemerkte Roly und entfernte ein Stäubchen von Tims Jackett. »Soll ich Sie noch rasieren, Mr. Tim? Seit heute Morgen haben sich da schon wieder ein paar Stoppel rausgeschoben ...«
Tim sah seinen Diener alarmiert an. »Die Jungs haben sich dem ANZAC verpflichtet? Sag nicht, dass du auch so was vorhast, Roly!«
Roly nickte schuldbewusst. »Doch, Mr. Tim. Ich ... ich habe ... meine Mom sagt, es war voreilig, aber die Jungs haben keine Ruhe gegeben. Jedenfalls hab ich unterschrieben ...«
Er senkte die Augen. Tim ließ sich auf einen Stuhl fallen.
»Roly, um Himmels willen! Aber das können wir rückgängig machen! Wenn ich mit dir zum Rekrutierungsbüro gehe und denen eindringlich klarmache, dass ich ohne deine Hilfe unfähig bin, diese Mine zu leiten ...«
»Das würden Sie für mich tun?« Roly wirkte gerührt.
Tim seufzte. Er hasste allein den Gedanken, sich mit irgendwelchen Militärs auseinanderzusetzen und Schwäche einzugestehen. »Natürlich. Und für deine Mutter. Die Lambert-Mine hat ihr den Mann genommen. Da schulde ich ihr wohl größtmögliche Sorge um das Leben ihres Sohnes.«
Roly O’Briens Vater war beim Einsturz der Lambert-Mine ums Leben gekommen.
Roly trat von einem Bein aufs andere.
»Wenn ich ... wenn ich das nun aber gar nicht will? Also ... es zurücknehmen, meine ich?«
Tim seufzte erneut. »Nun setz dich mal, Roly, wir müssen das besprechen ...«
»Aber Mr. Tim, Ihr Dinner. Miss Lainie wird warten ...«
Tim schüttelte energisch den Kopf und wies auf den zweiten Stuhl im Zimmer. »Meine Frau wird nicht verhungern, und das Dinner kann ohne uns anfangen. Aber dich in den Krieg schicken ... Wie kommst du denn überhaupt auf diese dumme Idee? Hat dir je ein Deutscher oder Österreicher oder Ungar oder wen auch immer du da
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