Der Ruf der Kiwis
erschien, noch erschöpfter als zuvor. Es waren wohl doch noch mehr Operationen geworden als die eine, die er hatte vollenden wollen. »Ich hätte Paddy auf dem Schiff lassen sollen. Wir schlafen da meistens ... Aber gestern ...«
»Gestern sind wir alle an unsere Grenzen gekommen«, sagte Jack. »Einige mehr als andere ...«
»Kommen Sie rein!« Commander Beeston hielt ihm das Zelt auf und machte sich gleich auf die Suche nach der Whiskeyflasche. Immerhin war er zivilisiert genug, zwei Gläser zu füllen. »Sie mögen doch?«
Jack mochte.
»Und was kann ich jetzt für Sie tun?«, fragte der Stabsarzt.
Jack sagte es ihm.
»Ich weiß nicht ... gut, ich schulde Ihnen was, aber eine Memme kann ich hier auch nicht brauchen. Und Feigheit vor dem Feind ...«
Commander Beeston nippte an seinem Whiskey.
Jack schüttelte den Kopf. »Private O’Brien ist nicht feige. Im Gegenteil, nach der Schlacht bei Cape Helles hat er eine Belobigung bekommen, weil er zwei Verwundete aus den feindlichen Linien geholt hat. Und bei der Erstürmung dieses unsäglichen Hügels hat er auch ganz vorn mitgekämpft. Aber der Mann hat Platzangst. In den Gräben wird er wahnsinnig.«
»Unsere Bergungstrupps müssen auch in die Gräben«, gab Beeston zu bedenken.
»Aber ebenso auf freies Feld. Und gerade darum wird sich doch wohl sonst keiner reißen, oder?«, fragte Jack. »Mal ganz abgesehen davon, dass Sie den Mann sicher kaum bei den Bergungstrupps einsetzen wollen. Einen erfahrenen Pfleger ...«
Beeston runzelte die Stirn. »Der Mann hat Sanitätererfahrung?«
Eine halbe Stunde später bat Commander Beeston Major Hollander förmlich um die Abstellung von Private Roland O’Brien für den Sanitätsdienst.
»Viel zu schade für die Strafkompanie, Major! Seinem Freund zufolge ist der Mann ein ausgebildeter Pfleger, geschult von einer Schwester aus dem Krimkrieg. Eine männliche Florence Nightingale. Den verheizen wir doch nicht in Frankreich!«
Eine weitere Stunde später konnte Jack McKenzie aufatmen. Roly war gerettet. Dennoch schrieb Jack an Tim Lambert in Greymouth. Es war besser, zwei Eisen im Feuer zu haben.
Anschließend schrieb er an Gloria. Er wollte sie nicht belasten, und er wusste nicht, ob er den Brief wirklich absenden sollte. Aber wenn er nicht irgendjemandem von dem Kampf erzählte, das wusste Jack, würde er verrückt werden.
7
Als Gloria nach Monaten endlich Sydney erreichte, war sie bereit, die ganze Welt zu hassen. Im Geiste wütete sie gegen die Freier, die sie hemmungslos benutzten – und dann nicht mal bereit waren, die geringen Aufpreise zu zahlen, die das Mädchen für »besondere Dienste« forderte. Es kam mehr als einmal vor, dass Gloria ihren Dolch ziehen musste, um die Männer dazu zu zwingen – wobei sie es kaum fassen konnte, dass dies meist funktionierte. Die eigentlich harmlosen Kleinstädter, die nur die Chance nutzen wollten, ein noch schwächeres und rechtloseres Geschöpf auszunutzen, gaben klein bei, wenn der Stahl aufblitzte. Ein Gauner wie der Steward hätte ihn dem Mädchen leicht entwendet und sich womöglich blutig gerächt. Aber vielleicht erschraken die Männer auch vor dem Hass und der Mordlust in Glorias Augen, wenn sie das Messer zückte. Solange sie ihnen zu Willen war, wirkte sie still und schwach, und sie steckte das Geld für ihre Dienste wortlos ein. Verweigerte man ihr jedoch ihren Lohn, wurde sie zur Furie.
Gloria hasste auch die anderen Freudenmädchen, die nicht bereit waren, eine Neue in ihrem Revier zu akzeptieren. Oft genug kam ihr Messer zum Einsatz. Die Mädchen waren viel zu abgestumpft, um auf bloße Drohungen zu reagieren, und die meisten waren bessere Kämpferinnen als Gloria. Zweimal fand sie sich böse verprügelt im Straßendreck wieder, und einmal raubte ihre Gegnerin ihr auch noch den Tagesverdienst. Dabei machte Gloria den anderen Huren nicht mal allzu große Konkurrenz. Die Männer, die sie mitnahmen, suchten eher das Besondere als die üblichen Dienste.
Am Anfang verstand das Mädchen nicht, wie das zusammenhing, dann aber wurde ihr klar, dass es ihr rasierter Schädel war, der die Männer faszinierte. Dabei hatte sie zunächst befürchtet, der radikale Haarschnitt würde das Geschäft schädigen – bis sie merkte, dass gerade abartig veranlagte Männer ihre glatte Kopfhaut unwiderstehlich fanden. Gloria rasierte sich folglich erneut, als ihre Locken nachwuchsen. Nebenbei war das praktisch zur Ungezieferbekämpfung, denn obwohl sie ihr Gewerbe
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