Der Ruf der Kiwis
...«
»Soldat, stehen Sie auf, und nehmen Sie Ihr Gewehr!« Major Hollander trat nach dem jungen Mann, aber nicht einmal das brachte Roly noch zur Besinnung.
Jack kämpfte sich durch Schutt und Blut und warf sich zwischen seinen Freund und den Major. »Sir, er kann nicht, Sir ... Das hatte ich Ihnen doch schon mal gesagt. Lassen Sie ihn wegschaffen, wenn das Bergungsteam kommt, er ist völlig in Panik ...«
»Ich nenne das Feigheit vor dem Feind, McKenzie.« Der Major machte Anstalten, Roly auf die Füße zu zerren.
Bevor ihm das gelang und Jack etwas erwidern konnte, explodierte in ihrem Rücken die nächste Granate. Erneut sprangen Türken in den Graben. Sie schrien vor Schmerz, als der Stacheldraht ihnen Haut und Uniform zerfetzte. Jack schaute sich nach dem jungen Mann von der Nordinsel um, bevor er sich in den Nahkampf stürzte. Auch er lag am Boden und schrie. Die Granate hatte seinen rechten Arm zerfetzt, sein Blut mischte sich mit dem der Feinde. Major Hollander kämpfte kaltblütig mit dem Bajonett.
»Sanitäter!«
Niemand achtete mehr auf den wimmernden Jungen in der Bunkerecke, die Bergungstrupps hatten anderes zu tun, als sich seiner anzunehmen. Sie erledigten ihre Arbeit unter schwerstem Beschuss und erlitten ebenfalls Verluste.
Irgendwann hörte Jack endgültig auf zu denken. Er schlug nur noch um sich und schoss, verlor dabei jedes Zeitgefühl. Hatte er je etwas anderes getan, als Menschen zu töten? Würde er je etwas anderes tun, als im Blut zu waten? Wie viele brachte er um? Wie viele starben überhaupt in ihrem selbstmörderischen Ansturm auf die Gräben?
Es wurde Nachmittag, ehe die Angriffswelle abebbte. Die Türken mussten erkennen, dass die Schlacht so nicht zu gewinnen war. Gegen fünf Uhr stoppte endlich das Feuer bis auf wenige Störsalven.
Major Hollander, blutig und verdreckt wie seine Soldaten, zog seine Taschenuhr. »Teatime«, sagte er kaltblütig.
Jack ließ sein Gewehr sinken. Er spürte bleierne Erschöpfung und Leere. Es war vorbei. Um ihn herum stapelten sich die Leichen von Freund und Feind, aber er lebte. Gott schien Jack McKenzie nicht zu wollen.
»Schafft diese Schweinerei hier weg und dann ab mit euch nach hinten.« Der Major wies auf die toten Feinde, die, zum Teil grässlich zerstückelt und entstellt, in den Gräben lagen. Die Bergungstrupps waren mit der Räumung der Gräben bis zuletzt nicht nachgekommen, sie hatten sich verständlicherweise zuerst um die eigenen Verwundeten gekümmert. »Der Graben wird von der Reserve bemannt ...«
Der Major stieß mit dem Fuß gegen eine der Leichen, als ob er seine Befehle dadurch bekräftigen wollte. Plötzlich bewegte der Mann sich.
»So dunkel ... die Mine, so dunkel ... das Gas ... wenn es brennt ...«
»Roly!«, rief Jack und hockte sich neben ihn. »Roly, du bist in keiner Mine ... Beruhige dich, Roly ...«
»Dieses feige Schwein liegt hier immer noch rum?« Der Major stürzte auf den wimmernden Roly zu und riss ein Schalbrett zur Seite, das dem Mann Deckung gewährt hatte. Er versetzte ihm einen brutalen Kinnhaken.
»Verschanzt sich und scheißt sich vor Angst in die Hose!«
Letzteres war nicht zu leugnen. Roly stank nach Urin und Exkrementen.
»Wo ist Ihr Gewehr, Private?«
Roly schien die Worte nicht zu verstehen. Sein Gewehr war nicht mehr zu finden. Es musste irgendwo am Boden liegen unter Erdmassen und Blut.
»Aufstehen jetzt! Und mitkommen, Sie stehen unter Arrest. Wir werden sehen, was wir mit Ihnen machen. Wenn’s nach mir geht, gibt das ein Standgericht. Feigheit vor dem Feind.«
Der Major richtete seine Waffe auf Roly, der reflexhaft die Hände hob und sich aufrappelte. Er stolperte willenlos vor dem Offizier her.
Jack hätte dem Jungen gern geholfen, aber vorerst fiel ihm keine Möglichkeit dazu ein. Er war einfach zu müde zum Denken, und erst recht zu erschöpft, irgendetwas zu tun. Auch der Major, dachte Jack, müsste am Ende seiner Kräfte sein. Er würde Roly schon nicht sofort erschießen lassen.
Jack taumelte durch die Gräben, mit ihm andere, ebenso ausgebrannte Soldaten.
»Zweiundvierzigtausend ...«, sagte einer. »Es heißt, es waren zweiundvierzigtausend. Und zehntausend sind tot ...«
Jack empfand kein Grauen mehr, und erst recht keinen Triumph. Er fiel auf seine Pritsche und versank in Schlaf. In dieser Nacht quälten ihn noch keine Albträume. Er hatte nicht mal mehr Kraft zu frieren.
»Albert Jacka kriegt das Victoria-Kreuz!«, erklärte einer der Männer am Feuer.
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