Der Ruf der Kiwis
hervorgeholt, manchmal zitternd, wenn sie meinte, die Papiere in den Innentaschen ihrer Männerkleidung nicht mehr zu spüren. Inzwischen waren die Dokumente fleckig, vom Salzwasser durchfeuchtet und zerknittert, aber sie waren gültig.
Gloria Martyn ... der Name war ihr längst nicht mehr vertraut. Wenn sie überhaupt über das Wesen nachdachte, zu dem sie geworden war, nannte sie sich »Jack«. Flüchtig überlegte sie, ob die Verwendung der Dokumente die Gefahr barg, entdeckt und zurück zu ihren Eltern geschickt zu werden. Aber das hielt sie für unwahrscheinlich. Vielleicht, wenn sie eine Schwerverbrecherin wäre. Aber ein in San Francisco ausgerissenes Mädchen – die meisten Menschen würden wahrscheinlich eine Liebesgeschichte zusammenfantasieren. Wie Lilian ... Gloria konnte kaum glauben, dass sie ihre vergnügte kleine Cousine womöglich bald wiedersehen würde.
In den letzten Wochen hatte Gloria ihr Haar wieder wachsen lassen, und bei ihrer Ankunft in Sydney umspielten kurze rotbraune Locken ihr mageres Gesicht. In einem Warenhaus erstand sie zwei Reisekostüme. Nicht teuer, aber auch nicht die allerschlechteste Qualität. Obwohl sie länger dafür hatte »arbeiten« müssen, war Gloria entschlossen, ein Billett Zweiter Klasse zu buchen. Das Zwischendeck würde sie nicht noch einmal ertragen, auch nicht als Passagierin.
Das erste Schiff Richtung Neuseeland fuhr nach Dunedin. Was das anging, hatte Gloria Glück. Sie hatte schwer mit der Frage gerungen, ob sie auf eine Passage zur Südinsel warten oder so bald wie möglich in See stechen sollte, auch wenn die Fahrt zur Nordinsel ging. Weniger schön war der Umstand, dass die
Queen Ann
erst in einer Woche ablegen würde. Gloria kämpfte mit sich. Sollte sie die Wartezeit als »Jack« in einer Männerpension verbringen und damit Geld sparen, oder nahm sie sich ein Zimmer? Letzteres würde ihre letzten Geldreserven aufbrauchen. Die lukrativste Lösung, noch ein paar Tage lang zu »arbeiten«, verwarf sie rasch. Nur keine Risiken mehr eingehen! Nach all dem, was sie hinter sich hatte, mochte sie keiner Attacke anderer Dirnen mehr zum Opfer fallen oder sich gar als »Jack« unter Männern die Schiffspassage stehlen lassen.
Plötzlich wurde Gloria von Angstanfällen geschüttelt. Was war, wenn man sie doch bei der Passkontrolle erkannte? Was, wenn die
Queen Ann
unterging? Wenn eines der Besatzungsmitglieder vorher auf der
Mary Lou
oder der
Niobe
gefahren war und sie erkannte? Und wie würde sich die Heimkehr darstellen? Grandpa James war tot, aber würde Grandma Gwyn noch leben? Hatten Kura und William Kiward Station vielleicht inzwischen verkauft, wütend darüber, dass Gloria weggelaufen war? War sie unter Umständen mitverantwortlich dafür, dass Jack und Grandma Gwyn ihre Heimat verloren? An Jack mochte Gloria kaum denken. Würde sie ihn hassen, wie sie alle Männer hasste?
Gloria verbrachte die Zeit bis zur Abfahrt ihres Schiffes zitternd und allein in einer billigen Pension. Von Sydney, der schmucken kleinen Stadt, die sich aus einer ehemaligen Sträflingskolonie entwickelt hatte, sah sie nichts außer den Hafenanlagen. Port Jackson war ein Naturhafen, eine tief ins Land reichende Meeresbucht schützte die Schiffe und Anleger. Aber nach wie vor hatte Gloria keinen Blick für Naturschönheiten. Ein Hafen war für sie nichts als ein Ort voller Gefahren und menschlichem Abschaum.
Sie investierte ihr letztes Geld in eine Droschke, um nicht zu Fuß durchs Hafenviertel gehen zu müssen, und rannte dann fast an Bord der
Queen Ann
. Gloria meinte, vor Erleichterung weinen zu müssen, als man ihr freundlich ihre Kajüte zuwies. Sie teilte den winzigen Raum mit einem aufgeregten jungen Mädchen, das mit seinen Eltern nach Neuseeland reiste. Seine Mutter, so erzählte es gleich eifrig, sei bei Queenstown geboren worden, habe dann aber nach Australien geheiratet. Jetzt müsse der Vater geschäftlich zur Südinsel und nähme seine Familie mit. Henrietta und ihre zwei Brüder würden endlich ihre Großeltern kennen lernen.
»Und du?«, fragte sie eifrig.
Gloria erzählte wenig. Die fröhliche Mitreisende ging ihr auf die Nerven wie damals die Mitschülerinnen in Oaks Garden. Sie fiel denn auch gleich wieder in ihre damaligen Verhaltensweisen zurück, schwieg und zeigte ein mürrisches Gesicht. Henrietta begann bald, Gloria zu meiden.
Die Überfahrt dauerte einige Zeit, und die Reederei bot den Passagieren der Ersten und Zweiten Klasse einige
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