Der Ruf der Kiwis
ja doch nichts, was er ihm zum Trost sagen konnte. Er musste etwas unternehmen. Bevor sie den Mann nach Lemnos brachten! Wenn das Verfahren erst mal anlief, war es sicher nicht mehr zu stoppen.
Jack bedankte sich also bei dem freundlichen Gefängnisvorsteher und lief zu den Lazaretten.
»Die Feldambulanz ... Commander Joseph Beeston, wo finde ich den?« Jack sprach den nächstbesten Pfleger an.
»Der Stabsarzt wird wohl operieren. Die sind alle seit gestern im Einsatz ...« Der Mann schob einen offensichtlich desorientierten Verwundeten mit Kopfverband in eines der Zelte.
»Die Ärzte sind alle in den Zelten da drüben, fragen Sie einfach nach ihm. Aber kann sein, dass Sie warten müssen. Da ist die Hölle los!«
Jack musste sich überwinden, die Zelte zu betreten, in denen die improvisierten Operationssäle untergebracht waren. Ein Pfleger trug eben blutige Säcke heraus. Jack erkannte Mullbinden, aber auch abgeschnittene, zerschossene Gliedmaßen. Er kämpfte gegen den Drang, sich zu übergeben, als ihm von drinnen süßlicher Blutgeruch, durchmischt mit Lysoldämpfen und Äther entgegenwallte.
Auch im Zelt war der Boden voller Blut, die Männer kamen mit dem Aufwischen kaum nach. An mehreren Tischen arbeiteten Ärzte, man hörte Stöhnen und Schreie.
»Commander Beeston?« Jack sprach auf gut Glück einen der Ärzte an, die mit Mundschutz und Schürze kaum zu erkennen waren. Schlachterschürzen ...
»Da hinten, letzter Tisch rechts ... neben dem Köter ...« Der Arzt wies mit dem blutigen Skalpell in die angegebene Richtung.
Jack warf einen Blick hinüber und erkannte auch schon Paddy. Der kleine Hund lag in der äußersten Ecke des Zeltes und wirkte völlig verstört. Sein Keuchen und sein Zittern, als von fern Mündungsfeuer hörbar wurde, erinnerte Jack beinahe an Roly.
»Commander Beeston? Kann ich ... kann ich Sie kurz sprechen?«
Der Arzt drehte sich halb um, und Jack blickte in todmüde Augen hinter einer dicken Brille. Beestons Schürze war blutverschmiert, seine Arme blutig bis zum Ellbogen. Er schien verzweifelt zu versuchen, irgendetwas in den Eingeweiden seines Patienten zu flicken.
»Kenn ich Sie ...? Ach ja, sicher, Private McKenzie! Jetzt Corporal! Gratuliere!« Commander Beeston schaffte ein schwaches Lächeln. »Ich müsste Sie kurz sprechen«, wiederholte Jack dringlich. Garantiert gingen ständig Hospitalschiffe nach Lemnos. Irgendjemand konnte auf die Idee kommen, die Gefangenen mitzuschicken.
»Selbstverständlich«, meinte der Feldarzt. »Aber nicht jetzt. Sie müssen warten. Wenn ich ... wenn ich mit dem hier fertig bin, mache ich eine Pause. Es muss doch auch mal Verstärkung aus Lemnos kommen, wir schaffen es hier nicht mehr. Jedenfalls ... warten Sie im ›Kasino‹ oder wie sie die Hütte nennen. Das kann Ihnen hier jeder zeigen. Und wenn Sie es sich zutrauen, nehmen Sie Paddy mit. Der steht auch kurz vor dem Kollaps ...« Beeston wandte sich wieder seinem Patienten zu.
Jack versuchte, den Hund aus der Ecke zu locken. Er winselte. Jack leinte das Tier schließlich an, als es zwei Schritte in seine Richtung gerobbt war, und überredete es, ihm aus dem Zelt zu folgen. Paddy drängte zu den Schiffen.
»Kluger Hund«, bemerkte Jack. »Da zieht’s wohl heute viele hin. Und wo ist jetzt das ›Kasino‹?«
Commander Beestons Ausdruck »Hütte« passte deutlich besser zu dem aus Zeltleinwänden und Schalholz zusammengehauenen Verschlag, in dem die Ärzte zwischen den Operationen kurze Verschnaufpausen einlegten. Als Jack eintraf, lag ein junger Sanitätsoffizier im Tiefschlaf auf einer Pritsche, ein dunkelhaariger, junger Arzt nahm einen tiefen Schluck aus einer Whiskeyflasche, spritzte sich Wasser aus einem Waschgestell ins Gesicht und eilte wieder hinaus.
Jack beschloss, vor dem Zelt zu warten, und vertrieb sich die Zeit mit ein paar Gehorsamsübungen mit Paddy. Der kleine Hund vergaß darüber seine Nervosität und folgte bald eifrig den Anweisungen. Auch Jack tat die Arbeit gut. Für kurze Zeit vergaß er die Erinnerungen an den Nahkampf im Graben.
»Kluger Hund!«, lobte Jack den kleinen Mischling schließlich zufrieden. Auf einmal empfand er bohrendes Heimweh. Was hatte ihn bewogen, Kiward Station, die Collies und die Schafe zu verlassen, um sich hier am Ende der Welt einzugraben und auf Menschen zu schießen, mit denen er keinen Händel hatte?
»Sie haben ein Händchen für Hunde!«, erklärte Commander Beeston beeindruckt, als er nach mehr als zwei Stunden endlich
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