Der Ruf der Kiwis
»Als erster Australier! Aber er hat’s auch verdient. Hat die Kerle drüben bei Courtney’s Post praktisch allein erledigt. Dabei hatten sie den Graben schon besetzt. Unglaublich!«
Die Sonne war wieder aufgegangen über Gallipoli. Die siegreichen Verteidiger versammelten sich an Hunderten von Feuern, löffelten ihr Frühstück und tauschten Heldengeschichten aus. Ein paar badeten bereits in der Bucht am Strand, obwohl es noch frisch war. Aber die Männer wollten den Gestank nach Blut und Pulver loswerden, und das Meer war die einzige Badewanne, die zur Verfügung stand. Die Türken beschossen die Schwimmer nicht mit der gewohnten Energie. Gewöhnlich zielten sie halbherzig auf Badende, die sich ihrerseits einen Spaß daraus machten, rechtzeitig unterzutauchen, bevor die Kugeln einschlugen. Aber an diesem Morgen bargen die Feinde ihre Toten. Es war keine offizielle, von den Generälen ausgehandelte Waffenruhe, sondern einfach ein Akt der Menschlichkeit. Die Australier und Neuseeländer hievten die Leichen über den Rand ihrer Schützengräben und schossen nicht auf die Bergungsmannschaften der Türken. Sie verfolgten die Männer zwar mit ihren Gewehren, aber wenn sie die weißen Binden um ihre Arme sahen, feuerten sie nicht.
Jack hatte sich vergewissert, dass die Überlebenden seiner Kompanie wohlauf waren, dass sie zu essen bekamen und Wasser zum Waschen holten. Auf Letzteres musste er mitunter ein Auge haben. Ein Teil der Goldgräber hatte mit Sauberkeit nicht viel zu tun, ihre Vorgesetzten fingen sich leicht eine Rüge der englischen Offiziere ein, wenn sie nicht ordnungsgemäß gekleidet auftraten. Jack musste über diesen Gedanken beinahe lachen. Einerseits Ordnung und Sauberkeit – andererseits Waten im Blut. Die Schützengräben waren inzwischen gesäubert, aber Jack würde sich darin nie mehr aufhalten können, ohne die Männer vor sich zu sehen, die der Stacheldraht fast gehäutet hatte, und das Gesicht des jungen Kerls, dem er mit der Schaufel den Kopf abschlug.
Jack machte sich auf den Weg zum Strand, um nach Roly zu suchen. Wo um Himmels willen mochte der Major ihn arretiert haben?
Gleich der erste Sanitäter, den Jack fragte, wies ihm den Weg zum »Gefängnis«. Der wilde Haufen, den Australien und Neuseeland in den Krieg geschickt hatten, brachte immer wieder Männer hervor, die selbst im Feld über die Stränge schlugen. Allein am Vorabend der Schlacht waren zwei Mann wegen Volltrunkenheit verhaftet worden, nur einer von ihnen konnte gegen Mittag gegen die Türken geschickt werden. Er fing sich prompt einen Schuss ein und lag jetzt im Lazarett. Der andere war erst an diesem Morgen wieder ansprechbar und wartete nun auf sein Verfahren, wobei noch unklar war, ob man ihn wegen Ruhestörung, Feigheit vor dem Feind oder gar Desertion anklagen würde. Jack fand die improvisierte Haftanstalt in einem Zelt am Strand, bewacht von einem älteren Sergeant und zwei jungen Soldaten.
»Wen suchen Sie? Den Feigling? Den haben wir heute erst mal zivilisiert, gestern war er ja nicht ansprechbar. Völlig durchgedreht ... ich wollte schon einen Arzt rufen, aber die Ärzte hatten ja wohl anderes zu tun. Und jetzt wird’s auch wieder. Schämt sich furchtbar und will mir die ganze Zeit was von ’ner Mine erzählen.« Der Sergeant rührte gemütlich in seinem Tee. »Da ist ihm wohl mal was auf den Kopf gefallen ...«
Jack war einerseits erleichtert, andererseits verhieß es nichts Gutes, dass man Roly unter Arrest behielt, obwohl sich sein Zustand normalisierte.
»Was geschieht denn jetzt mit ihm?«, erkundigte er sich. »Major Hollander ...«
»Der wollte ihn am liebsten gleich erschießen. Feigheit vor dem Feind ...«, meinte der Sergeant. »Wollen Sie ’nen Tee?«
Jack lehnte ab. »Kann er das denn?«, fragte er besorgt. »Ich meine ...«
Der Sergeant zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich werden sie ihn nach Lemnos schaffen, vor’s Kriegsgericht. Den anderen auch. Ob sie die Kerle dann gleich erschießen ... Wäre ja eigentlich Verschwendung, nicht? Ich denke, es läuft auf ein Strafbataillon hinaus. Was letztlich den gleichen Effekt hat, aber vorher können sie noch ein bisschen in Frankreich Gräben schaufeln ...«
»In Frankreich?«, fragte Jack entsetzt.
Der Mann nickte. »Für ’n reines Aussie-Strafbataillon wird’s wohl nicht langen. Die Kerle hier sind ja wild, aber feige sind sie nicht! Wollen Sie den Mann jetzt sehen?«
Jack schüttelte den Kopf. Es brachte nichts, mit Roly zu reden, es gab
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