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Der Ruf der Kiwis

Der Ruf der Kiwis

Titel: Der Ruf der Kiwis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
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Zerstreuungen. Gloria hätte sich gern davon zurückgezogen – sie schwankte zwischen dem Wunsch, die Zeit an Deck zu verbringen und wider besseres Wissen nach ihren Heimatufern auszuschauen, und dem Drang, sich in ihrer Kabine zu verstecken. Allerdings waren Tanz und Musikdarbietungen stets mit den Mahlzeiten verbunden, und Gloria nutzte jede Gelegenheit, sich sattzuessen. In Australien hatte sie fast ständig Hunger gelitten, und jetzt würde sie keine Möglichkeit versäumen, das mit der Passage bezahlte Essen zu genießen. Dabei fiel es ihr anfänglich schwer, sich wieder auf gesellschaftlich akzeptierte Umgangsformen zu besinnen. Zu oft hatte sie Brot und Käse rasend schnell in sich hineingestopft, bevor womöglich ein anderer Streuner stärker war und dem Knaben »Jack« das Essen entriss.
    Allerdings ließen auch die geregelten Mahlzeiten und der ordentliche Speisesaal auf dem Schiff die Erinnerungen an Oaks Garden wieder erwachen. Gloria verhielt sich wie damals: Sie schlich mit gesenktem Kopf an ihren Platz, wünschte ihren Tischnachbarn einen guten Appetit, ohne sie anzusehen, und aß dann so schnell wie möglich. Da es unhöflich gewesen wäre, anschließend gleich wieder aufzustehen, stand sie auch noch die folgenden Musik- oder Cabaret-Veranstaltungen durch, nippte an ihrem Wein und kaute dabei Nüsse, die als Snacks gereicht wurden. Wenn jemand sie ansprach, antwortete sie einsilbig. Alles in allem gelang es ihr hervorragend, die Rolle des schüchternen, überaus züchtigen Mädchens zu spielen. Nur einmal, als ein junger Mann sie nichts Böses ahnend zum Tanz aufforderte, brach ihr »Übergangsselbst« wieder durch. Sie blitzte ihn so hasserfüllt an, dass er fast rückwärtsstolperte, und Gloria erschrak vor sich selbst. Hätte er sie angefasst, hätte sie das Messer gezückt. Sie trug es immer noch bei sich. Die kleine Henrietta schien sich seit jenem Vorfall vor ihr zu fürchten. Gloria zählte die Tage der Reise.
    Und dann endlich tauchte Neuseeland – Aotearoa – am Horizont vor ihnen auf. Gloria hatte von der großen weißen Wolke geträumt, aber tatsächlich erreichten sie Dunedin nicht am frühen Morgen, sondern am Nachmittag, und die Herbstnebel, mit denen hier sonst zu rechnen war, hatten sich längst verzogen. Aber immerhin erkannte man schon vom Schiff her die Silhouette der Berge im Hintergrund der schmucken Stadt in Otago. Der Kapitän wies die Passagiere der Ersten und Zweiten Klasse auf die Albatroskolonie auf der Otago Peninsula hin, und die Menschen reagierten mit den erwarteten Ahs und Ohs auf die gewaltigen, über der Insel kreisenden Vögel.
    Gloria spielte mit ihrem Kleiderbündel, ihre Finger hätten den ausgeblichenen Stoff fast zerrissen. Zu Hause ... sie war endlich zu Hause. Sie hatte gehört, dass die Einwanderer zu Zeiten Grandma Gwyns mitunter auf die Knie gefallen und den Boden geküsst hatten, wenn sie das neue Land lebend erreichten, und sie konnte es ihnen nachfühlen. Sie empfand überwältigende Erleichterung, als die 
Queen Ann
 in Port Chalmers einlief.
    »Was haben Sie jetzt vor, Mrs. Martyn?« Henriettas Vater, der neben ihr stand, fragte ohne viel Interesse, aber bis zuletzt bemüht um höfliche Konversation mit der seltsamen jungen Frau.
    Gloria sah zu ihm auf – und stellte fest, dass sie keine Antwort wusste. In ihren Plänen war das Ziel Neuseeland gewesen. Aber was genau sie tun würde, wenn sie ankam ...
    »Ich werde meine Familie aufsuchen«, sagte sie mit so fester Stimme wie möglich.
    »Dann wünsche ich Ihnen viel Glück.« Mr. Marshall hatte einen Bekannten auf Deck entdeckt und ließ Gloria stehen. Das Mädchen atmete auf. Und sie hatte ja auch nicht gelogen. Natürlich wollte sie nach Kiward Station. Allerdings ...
    »Die Reisenden nach Dunedin nehmen am besten den Zug«, gab ein Steward kund. »Die Züge verkehren regelmäßig, Sie kommen auch jetzt noch problemlos in die Stadt.«
    »Wir kommen nicht in Dunedin an?«, fragte Gloria leise.
    Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Nein, Miss, Port Chalmers ist ein eigenständiger Ort. Aber wie gesagt, es ist kein Problem ...«
    Sofern man mehr Geld in der Tasche hatte als ein paar australische Cents. Gloria war sich sicher, die Bahnfahrt nicht bezahlen zu können, aber irgendwie erschien ihr das gar nicht so wichtig. Sie war wie in Trance, als sie die Gangway hinabstieg und endlich wieder neuseeländischen Boden betrat. Ohne Ziel wanderte sie am Meer entlang, setzte sich schließlich auf eine

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