Der Ruf der Kiwis
Herzen liegen, übernimmt sie sicher die Kosten für Ihre Droschke.«
Ein paar Minuten später saß Gloria, eine Tasse Tee vor sich, auf dem Polizeirevier, das sich Constabler McCloud mit Constabler McArthur teilte. Dunedins Einwohner waren fast alle schottischer Herkunft.
Constabler McCloud telefonierte zunächst mit einer Miss Brandon, dann mit einer Mrs. Lancaster, und schließlich wandte er sich Gloria zu. »Ja, sie haben eine Miss Sarah Bleachum, aber sie unterrichtet zurzeit ... Sternenkunde. Seltsames Fach, hätte ich nie gedacht, dass Mädchen für so was zu haben sind! Die Rektorin meint allerdings, ich sollte Sie einfach in eine Droschke setzen und hinschicken. Sie würde das mit den Kosten schon irgendwie regeln.«
Das klang tröstlich, und gleich darauf versank Gloria in den Polstern eines äußerst geräumigen Automobils; anscheinend rechnete man hier mit hohen Hüten der Passagiere. Der Fahrer tuckerte durch Port Chalmers, nicht ohne Gloria auf die Vorteile der elektrischen Straßenbeleuchtung hinzuweisen, die vor kurzem verlegt worden war, und dann auf gut ausgebauten, aber dunklen Straßen Richtung Dunedin. Gloria wünschte sich, die zum Teil durch bewaldete Gebiete führende Straße im Hellen zu sehen. Südbuchen ... Cabbage Trees ... Vielleicht würde sie sich weniger unwirklich fühlen, wenn sie die Vegetation ihrer Heimat wiedersah.
Das Gebäude der Princess Alice School erinnerte an Oaks Garden. Allerdings war es kleiner und architektonisch hübscher, ein verspielter Bau mit Erkern und Türmchen, erstellt aus dem landestypischen, hellen Sandstein. Eine Allee führte zum Haus, und Glorias Herz schlug heftig, als der Chauffeur vor der Freitreppe hielt. Wenn Miss Bleachum sie jetzt nicht wiedererkannte oder nichts mit ihr zu tun haben wollte ... Was machte sie dann, um sich diese Taxifahrt zu verdienen?
Der Fahrer begleitete sie die Treppe hinauf, und dann stand sie in einer Eingangshalle, in der ein einladender Kamin die Herbstkühle fernhielt. Es gab Möbel aus Kauri-Holz, Sessel und Sofas und weiche Teppiche. Eine ältere, etwas füllige Frau öffnete und lächelte Gloria zu.
»Ich bin Mrs. Lancaster, die Rektorin«, erklärte sie und entlohnte erst mal den Fahrer. »Und nun bin ich gespannt, wer uns hier aus Australien zugeflogen ist.« Sie lächelte Gloria zu. »Unsere Miss Bleachum übrigens auch. Sie kennt niemanden in Australien.«
Gloria suchte nervös nach Worten, um das richtigzustellen, als sie Miss Bleachum die Treppe zum Foyer herunterkommen sah. Ihre Lehrerin war ein bisschen älter geworden, aber im Grunde stand es ihr gut. Sie wirkte nicht mehr so unsicher wie früher – ein Christopher Bleachum hätte ihr kaum noch imponieren können. Sarah Bleachum hielt sich gerade und bewegte sich mit festen, aber schwingenden Schritten. Ihr dunkles Haar war in einem Knoten zusammengefasst, und sie schien sich nicht mehr für ihre dicke Brille zu schämen. Jedenfalls spielte sie nicht mehr unsicher daran herum, als sie die Fremden im Foyer erkannte.
»Besuch für mich?«, fragte sie mit ihrer freundlichen, dunklen Stimme. Gloria hätte sie unter Tausenden erkannt. Doch Miss Bleachum musterte erst mal den Taxifahrer.
»Ich bin es«, sagte Gloria leise.
Miss Bleachum runzelte die Stirn und kam näher. Auch mit Brille sah sie nicht allzu gut.
»Gloria«, flüsterte das Mädchen. »Gloria Martyn.«
Miss Bleachum blickte einen kurzen Augenblick verwirrt, dann aber strahlten ihre Augen.
»Kind, ich hätte dich nicht erkannt!«, gab sie zu. »Du bist so erwachsen geworden. Und so dünn, du siehst ja ganz verhungert aus. Aber natürlich bist du’s! Meine Gloria! Und hast dir schon wieder die Haare geschnitten!«
Miss Bleachum eilte auf Gloria zu und zog sie spontan in die Arme.
»Ich hatte mir solche Sorgen um dich gemacht, seit du nicht mehr geschrieben hast.« Miss Bleachum streichelte über Glorias kurzes, krauses Haar. »Und deine Großmutter ängstigt sich erst. Ich habe sie vor ein paar Monaten kontaktiert, um nach deinem Verbleib zu fragen, und sie sagte, du seist weggelaufen und man könnte dich nicht finden. Ich habe immer so etwas befürchtet. Aber jetzt bist du ja da. Meine Gloria ...«
Gloria nickte benommen. »Meine Gloria«. Miss Bleachums Gloria, Grandma Gwyns Gloria ... sie spürte, wie sich etwas in ihr löste. Und dann lehnte sie sich an Miss Bleachums Schulter und begann zu weinen. Zuerst in kurzen, trockenen Schluchzern, später kamen die Tränen. Sarah Bleachum
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