Der Ruf der Kiwis
Erdball, den Miss Helen in der Schule hatte«, erklärte sie gelassen. Gwyneira hatte den Globus damals unauffällig aus dem Herrenzimmer Gerald Wardens mitgehen lassen und dem Unterricht zur Verfügung gestellt. »Weißt du nicht mehr, wo Amerika liegt, Tonga? Und wie groß Australien ist? Zehnmal größer als Aotearoa. Gloria ist dorthin durchgelaufen oder -gefahren – kein Mensch weiß, wie sie es geschafft hat. Ein
pakeha
-Mädchen, Tonga ...«
»Sie ist zur Hälfte Maori!«, trumpfte Tonga auf.
»Zu einem Viertel«, korrigierte Rongo. »Und auch eine Maori wird nicht mit dem Wissen geboren, wie man in der Wildnis überlebt. Du hast doch von Australien gehört? Der Hitze, den Schlangen ... Ganz allein hat sie das nicht geschafft.«
»Sie hat auch kaum allein den Ozean durchschwommen!«, sagte Tonga lachend.
Rongo nickte. »Eben!«, sagte sie, und ihr Gesicht spiegelte ihre Trauer wider.
Gloria verbrachte einen friedlichen Abend im Maori-Dorf – während Gwyneira sich mal wieder um sie sorgte. Sie hatte gefürchtet, Marama würde sie ausfragen – nach England, nach der Reise und vor allem nach Kura, ihrer Mutter. Aber Marama tat nichts dergleichen. Gloria konnte einfach dasitzen und dem Geplauder und den Geschichten lauschen, die am Feuer erzählt wurden. Tongas Anwesenheit verdankte der Stamm einem kleinen Jagdunfall. Der Häuptling hatte Rongo geholt, um einen Verletzten zu versorgen, und sie anschließend zurückgebracht. Jetzt prahlten die Männer lauthals mit ihren Erlebnissen. Der Felskamm, von dem der Jäger gestürzt war, wurde immer größer, und die Schlucht immer tiefer, aus der die anderen Männer ihn geborgen hatten. Rongo sagte nichts zu all dem, lauschte nur mit nachsichtigem Lächeln.
»Hör nicht auf sie. Sie sind wie Kinder ...«, sagte sie schließlich zu Gloria, die sich bei all den Wichtigtuern unsicher zu fühlen schien.
»Kinder?«, fragte Gloria erstickt.
Rongo seufzte. »Manchmal Kinder mit Fackeln in der Hand, oder Speeren und Kriegskeulen ...«
Als Gloria schließlich ihr Pferd sattelte – Wiremus Hilfe hatte sie abgelehnt –, trat Tonga zu ihr. Sie erschrak und hielt so weit Abstand, als gelte es, ein
tapu
zu wahren.
»Tochter der Ngai Tahu«, sagte er schließlich. »Was immer dir angetan wurde. Es wurde von
pakeha
getan ...«
6
Nach den ersten, aufregenden Wochen zwischen Flucht, Wohnungssuche und Hochzeit stellte Lilian Biller verwundert fest, dass ihre Barschaft wesentlich schneller zusammenschrumpfte, als sie gehofft hatte. Dabei war die Miete wirklich erschwinglich. Aber was Essen und Kleidung anging, Bücher für Bens Studium und zumindest eine Grundausstattung an Möbeln, Geschirr, Bett- und Tischwäsche, hatte die junge Frau sich gründlich verschätzt. Dabei verbrachte sie schon die ganzen ersten Wochen ihrer Ehe auf Schnäppchenjagd und bemühte sich, zumindest die Möbel gebraucht zu kaufen. Verschenkt wurde jedoch nichts in Auckland, die Lebenshaltungskosten waren deutlich höher als in Greymouth.
Lilian dachte also übers Geldverdienen nach und wandte sich damit erst mal an ihren Mann.
»Kannst du nicht in der Universität arbeiten?«
Ben wandte den Blick irritiert von dem Buch ab, das er gerade studierte. »Liebste, ich arbeite jeden Tag in der Universität!«
Lilian seufzte. »Ich dachte an bezahlte Arbeit. Braucht dein Professor keine Hilfe? Kannst du keine Kurse geben oder so was?«
Ben schüttelte bedauernd den Kopf. Die Linguistische Fakultät an der Universität Auckland war erst im Aufbau. Die Anzahl der Studenten rechtfertigte kaum eine volle Professorenstelle, geschweige denn die eines Assistenten. Und was Bens spezielles Wissensgebiet anging, so stieß es zwar auf größtes Interesse seines Lehrers, doch Themen wie »Vergleich polynesischer Dialekte zwecks Eingrenzung des Herkunftsgebietes der ersten Maori-Einwanderer« würden kaum einen Hörsaal füllen.
»Tja, dann wirst du dir etwas anderes suchen müssen«, unterbrach Lilian seine langatmigen, diesbezüglichen Erläuterungen. »Wir brauchen Geld, Liebster, da ist nichts dran zu deuteln.«
»Aber mein Studium! Wenn ich mich jetzt darauf konzentriere, kann ich später ...«
»Später sind wir verhungert, Ben. Aber du musst ja nicht den ganzen Tag arbeiten. Such dir irgendwas, das du neben dem Studium erledigen kannst. Wenn ich auch arbeite, schaffen wir es schon.«
Lilian küsste ihn ermutigend.
»Was willst du denn arbeiten?«, fragte er verwirrt.
Niemand
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