Der Ruf der Kiwis
versagen.
»Was wolltest du eigentlich werden?«, fragte sie schließlich. »Ich meine, auf der Universität ...«
Wiremu verzog das Gesicht. »Arzt«, sagte er dann. »Chirurg.«
»Oh.« Gloria konnte das Geflüster hinter seinem Rücken fast hören. Wahrscheinlich hatten sie ihn »Medizinmann« genannt.
Wiremu senkte den Blick, als er den ihren über seine Tätowierungen gleiten sah. Er schämte sich erkennbar, sogar hier, auf seinem Land, unter seinem Volk. Dabei entstellten ihn die blauschwarzen Ranken keineswegs, im Gegenteil, sie ließen sein etwas kantiges Gesicht weicher wirken. Aber Wiremu in einem westlichen Operationssaal? Unmöglich.
»Mein Vater hätte es lieber gesehen, wenn ich Jura studiert hätte«, sprach er weiter, um das Schweigen zu brechen.
»Wärst du da besser klargekommen?«
Wiremu schnaubte. »Ich hätte mich eben auf Maori-Angelegenheiten beschränken müssen. Mein Auskommen hätte ich gehabt, es gibt immer mehr Rechtsstreitigkeiten. ›Eine Aufgabe für einen Krieger ...‹«
»Sagt dein Vater?«
Wiremu nickte. »Ich streite nur nicht gern mit Worten.«
»Und was ist, wenn du dich mit Heilpflanzen beschäftigst?«, schlug Gloria vor. »Du könntest ein
tohunga
werden.«
»Für die Gewinnung von Teebaumöl?
Manuka?
«, fragte er bitter. »Oder eins werden mit dem Universum? Die Stimmen der Natur hören?
Te R e o ?
«
»Du hast es versucht«, riet Gloria. »Deshalb warst du im Ring der Steinkrieger.«
Wiremu schoss das Blut ins Gesicht. »Die Geister waren nicht sehr aufgeschlossen«, bemerkte er.
Gloria senkte den Blick. »Das sind sie nie ...«, flüsterte sie.
»Lasst den Atem einfach strömen! Nein, Heremini, versuch nicht, die Nase zu rümpfen, das sieht nur lustig aus, die Töne beeinflusst es gar nicht. So ist es besser. Ani, du wirst nicht eins mit der
koauau
, indem du dich verwandelst, sie nimmt dich an, wie du bist. Die
nguru
will deinen Atem spüren, Heremini ...« Marama saß vor dem reich verzierten Versammlungshaus – bei der Ausgestaltung des
marae
auf O’Keefe Station hatten Tongas Leute keine Mühen gescheut – und unterrichtete zwei Mädchen im Flötenspiel. Die
koauau
, eine kleine, bauchige Holzflöte, wurde mit der Nase gespielt, die
nguru
wahlweise mit Nase und Mund. Ani und Heremini versuchten jetzt jedenfalls, ihr Riechorgan zur Erzeugung von Tönen einzusetzen, und die Grimassen, die sie dabei schnitten, brachten Marama und die anderen Frauen um sie herum zum Lachen.
Gloria erschrak fast darüber, aber die Mädchen kicherten ihrerseits. Sie schienen es nicht so tragisch zu finden, dass sie den Flöten bislang nur ziemlich quietschende Laute entlockten.
»Gloria!« Marama stand auf, als sie ihre Enkelin sah. »Wie schön, dich zu sehen! So selten, wie du herkommst, sollten wir einen Begrüßungs-
haka
für dich tanzen ...«
Eigentlich wurden nur geehrte Gäste, also meist Fremde, mit einem Tanz begrüßt, doch Ani und Heremini sprangen auf, hoben ihre Flöten und deuteten Tanzschritte und Sprünge an. Dabei schwangen sie die Instrumente wie
mere pounamu
– Kriegskeulen. Als sie obendrein ausgelassen Verse zu schreien begannen, gebot Marama ihnen Ruhe.
»Nun hört mal auf, Gloria ist doch keine Fremde, sie gehört zum Stamm. Außerdem müsst ihr euch schämen für euer Gekrächze. Versucht es lieber noch mal mit den Flöten. Gloria ...
mokopuna
... willst du nicht vom Pferd steigen?«
Gloria errötete und ließ sich aus dem Sattel gleiten. Wiremu grinste und machte Anstalten, ihr die Stute abzunehmen.
»Darf ich den Thron der Häuptlingstochter irgendwo grasen lassen, oder verletze ich damit ein
tapu?
«, raunte er ihr zu.
»Pferde essen überall«, bemerkte Gloria und wunderte sich, dass Wiremu das als Scherz auffasste und ausgelassen lachte.
»Pferde leben in der Gnade der Geister!«, fügte er hinzu und nahm Ceredwen den Sattel ab.
»
Ta u a
, hier sind Fische für das Abendessen. Ich habe Gloria eingeladen«, wandte er sich dann an Marama.
Die nickte. »Wir werden sie später braten. Aber Gloria braucht keine Einladung, sie ist immer willkommen. Setz dich zu uns, Glory ... kannst du die
koauau
noch spielen?«
Gloria errötete. Marama hatte ihr als Kind gezeigt, wie man der Flöte Töne entlockte, und sie hatte sich bei der Atemführung recht geschickt angestellt. Melodien lagen ihr weniger. Dennoch mochte sie vor dem Stamm nicht ablehnen. Nervös griff sie nach der Flöte und blies
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