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Der Ruf der Kiwis

Der Ruf der Kiwis

Titel: Der Ruf der Kiwis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
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in Auckland wollte Zeichnen lernen, aber dafür brachte es Lilian binnen kürzester Zeit auf eine beträchtliche Anzahl von Klavierschülern. Dabei konzentrierte sie sich auf die Handwerkerviertel, vor Akademikerfamilien scheute sie zurück. Schließlich konnte es sein, dass die Hausfrau da besser Klavier spielte als sie. Nun war das kein Problem. Unter den fleißigen Einwanderern der zweiten Generation, die es mit ihren florierenden Werkstätten zu oft mehr als bescheidenem Wohlstand gebracht hatten, herrschte der Wunsch, es den »Reichen« gleichzutun, und dazu gehörte nach allgemeiner Ansicht auch eine musikalische Grundausbildung der Kinder.
    Lilians Aushänge in Lebensmittelgeschäften und Pubs bewirkten insofern ein unerwartet großes Echo. Schließlich war hier keine Schwellenangst vor einer Musikschule oder vor einem diplomierten Lehrer zu überwinden. Lilian wirkte auch nicht einschüchternd, sondern nahm die nervösen Eltern genauso leicht für sich ein wie die Schüler: Natürlich war es beeindruckend, dass sie ihre musikalische Kunst in England studiert hatte und man trotzdem normal mit ihr reden konnte. Hinzu kam, dass Lilian es mit klassischen Grundsätzen nicht allzu genau nahm. Sie reduzierte Fingerübungen und Etüdenspiel auf ein Minimum, sodass ihre Schüler oft schon in der dritten oder vierten Stunde ein einfaches Lied in die Tasten hämmerten. Und da ihre Klientel auch sicher lieber selbst sang als Klavierkonzerte zu besuchen – das Gegröle der Pub-Besucher ließ Ben und Lilian oft nicht schlafen –, legte sie einen weiteren Schwerpunkt auf einfache Begleitungen für Gassenhauer und patriotische Gesänge. Die Rechnung ging auf: Nichts überzeugte die Eltern ihrer Schüler mehr vom Talent ihres Kindes und der Genialität seiner Lehrerin als die Tatsache, dass man sich gleich beim nächsten Familienfest um das Klavier versammeln und 
It’s a long Way to Tipperary
 schmettern konnte.
    Ben tat sich mit dem Geldverdienen deutlich schwerer. Er musste zwangsläufig eher auf Muskelkraft setzen, als mehr oder weniger vorhandene Talente zu nutzen. Allerdings fanden sich zu praktisch allen Tages- und Nachtzeiten Hilfsarbeiterjobs im Hafen. Ben be- und entlud Schiffe und Lastwagen, meist morgens, bevor die Vorlesungen begannen.
    Ein paar Monate lang kamen die beiden gut über die Runden. Es reichte sogar zu ein paar neuen Kleidungsstücken und einem ordentlichen Esstisch mit zwei Stühlen. Die Wohnsituation über dem Pub war allerdings immer noch unbefriedigend. Nach wie vor war es laut, stank nach Bier und altem Fett, und Lily klagte, dass sie am Abend keine Klavierschüler annehmen konnte, weil sie Angst hatte, allein durch ihr Viertel nach Hause zu gehen. Die Toilette auf dem Flur war eine Katastrophe – niemand der anderen Mieter schien auch nur auf den Gedanken zu kommen, sie gelegentlich zu putzen. Und einmal fürchtete Lilian sich fast zu Tode, als einer der ständig betrunkenen Männer, deren Familien in den beiden anderen Wohnungen hausten, sich nachts verirrte und wütend gegen ihre Tür schlug und trat. Auf die Dauer konnte und wollte Lilian nicht bleiben – erst recht nicht, als sie mit morgendlicher Übelkeit zu kämpfen begann.
    »Dann isses ja endlich so weit!«, kicherte ihre reichlich verkommene Nachbarin, als sie mit bleichem Gesicht und noch im Morgenmantel aus der Toilette in ihre Wohnung torkelte. »Hab mich schon gefragt, wann bei euch was im Busch ist.«
    Die Frau selbst hatte vier Kinder. Sie sollte also wissen, wovon sie sprach. Lilian leistete sich trotzdem einen Besuch beim Arzt, der ihre gesamten Ersparnisse verschlang. Beschwingt tanzte sie anschließend zum Hafen, um Ben abzuholen.
    »Ist das nicht großartig, Ben? Ein Baby!« Lilian begrüßte ihn gleich am Kai mit ihrer wundervollen Nachricht. Er schleppte eben ein paar Säcke von einem der Schiffe zu einem der Lastwagen und schien völlig erschöpft. Lilian nahm das nicht zur Kenntnis. Sie war grenzenlos begeistert und voller Pläne.
    Ben selbst konnte sich nicht so unbeschränkt freuen. Er hatte morgens um fünf mit der Arbeit begonnen, dann den Tag in der Universität verbracht und half jetzt auch noch beim Löschen einer Ladung. Damit konnte er einiges in die gemeinsame Kasse werfen und hatte eigentlich gehofft, in den nächsten Tagen ungestört studieren zu können. Seit er mit seiner Doktorarbeit begonnen hatte, geizte er mit jeder freie Minute. Lilians Schwangerschaft würde ihn nun zu weiteren Anstrengungen

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