Der Ruf der Kiwis
Bitte geben Sie mir ein bisschen Zeit, die von meinem Mann skizzierten Korrekturen vorzunehmen.« Über Lilians Gesicht zog sich leichte Röte.
Wilson nickte.
»Abgabe siebzehn Uhr«, erklärte er und zog seine goldene Taschenuhr. »Sie haben also noch fünfzehn Minuten. Dann machen Sie mal.« Er warf ihr einen Schreibblock hin und wandte sich wieder seinen Manuskripten zu. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die junge Frau sekundenlang zögerte, bevor ihr Bleistift in Windeseile über das Papier flog. Nach knapp fünfzehn Minuten wirkte Lilian völlig außer Atem, schob ihm aber ein vollständig neues Manuskript hinüber.
Medium oder Schwindlerin? Spiritistin verunsichert die Aucklander Society
Vor einer Gruppe honorabler Vertreter der Aucklander Society und einem Reporter des
Herold
produzierte sich am 28. März die neunundzwanzigjährige Spiritistin Margery Crandon, deren Pass sie als Amerikanerin ausweist. Mrs. Crandon selbst verweist allerdings auf ihre Herkunft aus einer rumänischen Adelsfamilie. Die Gedankenverknüpfung mit Strauß’
Zigeunerbaron
muss dem Autor dieser Zeilen hier nachgesehen werden. Denn auch sonst erinnerte vieles am Auftritt Mrs. Crandons an eine Operette oder eher eine Varieté-Darbietung. Kulisse und Einführung erzeugten den gewünschten Effekt wohligen Gruselns. Dazu bewies Mrs. Crandon bei der Erzeugung von ›Ektoplasma‹ sowie facettenreichen Plauderns in unbekannten Sprachen wie ›Enochianisch‹ beträchtliches schauspielerisches Talent. Angeblich manifestierte sich dabei ihr »Schutzgeist«, der allerdings mehr Ähnlichkeit mit einem feuchten Stück Tüll aufwies als mit einer Erscheinung aus dem Jenseits.
Mrs. Crandon handhabte sowohl ihn als auch andere Geisterscheinungen mit der Souveränität der geübten Puppenspielerin, womit es ihr gelang, tatsächlich einige der Anwesenden von der Echtheit der von ihr beschworenen Phänomene zu überzeugen. Dem unbestechlich kritischen Blick des
Auckland Herold
konnten sie jedoch nicht standhalten, und auch ihr Verweis auf Sir Arthur Conan Doyle, der sie angeblich verehrt, überzeugte uns nicht. Sir Arthur Conan Doyle ist ein Mann, der ein Übermaß an Fantasie mit sehr hoher persönlicher Integrität verbindet. Zweifellos fällt es ihm leichter, an die Beschwörung von Geistern zu glauben als daran, dass eine Lady, deren Auftreten über jeden Zweifel erhaben scheint, ihre adlige und honorige Anhängerschaft dreist betrügt.
Thomas Wilson musste lachen.
»Ihr Mann führt eine scharfe Feder«, erklärte er vergnügt. »Und er scheint sich auch auf geistige Kommunikation zu verstehen, da er Ihnen dies hier doch wohl gerade in die Hand diktiert hat ... Oder hatten Sie es auswendig gelernt? Aber egal. Wie Mr. Biller seine Texte produziert, ist mir völlig gleichgültig. Was diesen hier angeht: Streichen Sie den ›Zigeunerbaron‹. Die meisten unserer Leser sind nicht so gebildet. Auch ein paar von den Wörtern haben entschieden zu viele Silben, und die Sätze dürfen etwas kürzer werden. Ansonsten, sehr gut. Lassen Sie sich vorne zwanzig Dollar auszahlen. Ach ja, und dann schicken Sie Ihren Gatten morgen zum Pier. Da kommt eine Ladung Invalider aus England, die Gallipoli miterlebt haben. Wir hätten gern einen Bericht darüber. Gerade so patriotisch, dass keiner sich auf den Schlips getreten fühlt, aber kritisch genug, dass sich auch der Letzte fragt, warum wir unsere Jugend an einem Strand vor einem türkischen Kuhdorf verrecken lassen. Schönen Tag noch, Mrs. Biller!«
Lilian ging mit Ben zum Hafen und sprach mit einer Krankenschwester und ein paar der Veteranen, deren Anblick sie zutiefst schockierte. Dann ersetzte sie Bens hölzernen Bericht, der schwerpunktmäßig die geografischen Besonderheiten der türkischen Küsten, die Wichtigkeit der Dardanellenstraße für den Verlauf des Krieges und die türkischen Verteidigungsanlagen umriss, durch eine aufwühlende Schilderung der letzten Schlachten und eine hochemotionale Würdigung des letztlich erfolgreichen Abzugs der Truppen: »Bei allem Stolz auf diese epochemachende Leistung erfasst den Autor doch ein beklemmendes Gefühl beim Anblick all dieser jungen Männer, die ihre Gesundheit an einem Strand am Mittelmeer verloren, der dadurch zweifellos seinen Platz in der Weltgeschichte gewann. Gallipoli wird immer Synonym für Heldentum sein, aber auch für die Sinnlosigkeit und Grausamkeit des Krieges.«
»Streichen Sie ›Synonym‹«, bemerkte Thomas Wilson.
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