Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Ruf der Kiwis

Der Ruf der Kiwis

Titel: Der Ruf der Kiwis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
Vom Netzwerk:
ja einen anderen Namen annehmen!«, beschied Lilian ihm ungeduldig. »Jetzt stell dich nicht an und zieh dich um. Den Job machst du mit links!«
     
    Lilian schlief schon, als Ben mitten in der Nacht nach Hause kam, und sie schlief noch, als er morgens schon wieder losmusste, um im Hafen zu arbeiten. Deshalb machte sie sich den ganzen Vormittag Sorgen darüber, ob Ben es wohl schaffte, seinen Artikel fristgerecht fertigzustellen. Tatsächlich kam er erst um halb vier nach Hause, aber zu Lilians Erleichterung hatte er den Text zwischen zwei Seminaren in der Universität verfasst.
    »Beeil dich und bring ihn zu Mr. Wilson!«, forderte sie ihn auf. »Dann bist du noch gut in der Zeit, spätestens fünf, hat er gesagt.«
    Ben biss sich auf die Lippen. »Du, Lily, ich hab zugesagt, mit dem Professor noch eine Arbeit durchzugehen. Eigentlich muss ich gleich wieder los. Kannst du den Artikel nicht wegbringen?«
    Lilian zuckte die Schultern. »Kann ich natürlich. Aber solltest du Mr. Wilson nicht mal persönlich kennen lernen?«
    »Beim nächsten Mal, Liebes, ja? Diesmal lassen wir die Arbeit noch für sich sprechen. Das ist bestimmt kein Problem, oder?«
    Ben war schon zur Tür heraus, bevor Lilian etwas einwenden konnte. Resigniert warf sie ihren Umhang über. Erfreulicherweise brauchte man in Auckland keinen Wintermantel. Das Klima war immer mild, und an die tropische Vegetation hatte Lilian sich schon fast gewöhnt. Jetzt führte der Weg sie allerdings in die Innenstadt. Der 
Auckland Herold
war in einem der hübschen, viktorianischen Häuser untergebracht, die Teile der Queen Street beherrschten.
    Thomas Wilson saß über ein paar Texte gebeugt und brachte mit gerunzelter Stirn Korrekturen an.
    »Na? Sie schon wieder, junge Frau? Wo steckt der Gatte? Hat Mrs. Crandon ihn verschwinden lassen?«
    Lilian lächelte. »Sie lässt wohl eher was auftauchen ... Ektoplasma oder so etwas. Mein Mann ist leider in der Universität unabkömmlich. Aber er bat mich, Ihnen den Artikel zu bringen.«
    Wohlgefällig betrachtete Thomas Wilson das zierliche Mädchen mit dem langen roten Haar unter einem kecken grünen Hütchen. Billige Kleidung, aber eine gepflegte Ausdrucksweise und ein tadelloses Englisch. Und absolut beflissen bei der Starthilfe für ihren Mann. Hoffentlich war der Kerl es wert!
    Wilson überflog den Artikel. Dann warf er ihn auf den Schreibtisch und blitzte Lilian wütend an. Sein Gesicht war schon wieder gerötet.
    »Mädchen, was stellen Sie sich vor? Diesen gequirlten Bockmist soll ich drucken? Ihre Begeisterung für Ihren Gatten in allen Ehren, er hat sicher seine Qualitäten. Aber das ...« Lilian erschrak und griff nach dem Blatt.
     
    Auckland, 29. März 1917
     
    Einen faszinierenden Einblick in die Variabilität der Dimensionen verschaffte einem kleinen Kreis aucklandischer Intellektueller am 28. März Mrs. Margery Crandon, Boston. Auch Skeptiker bezüglich der Verifizierung spiritualistischer Phänomene mussten der neunundzwanzigjährigen Amerikanerin zubilligen, dass die von ihr auf rein spirituellem Wege herbeigeführten Manifestationen einer amorphen, weißlichen Substanz mit Hilfe der Naturgesetze nicht zu erklären ist. Dieses, im Fachvokabular als ›Ektoplasma‹ bezeichnete, fragile Material projiziert das Bild ihres Schutzgeistes, mit dem sie in einer faszinierenden Sprache kommuniziert. ›Enochianisch‹ besticht durch Syntax und Diktion, entspricht also nicht der im eher religiösen Kontext auftretenden Glossolalie. Was die Verifikation der Identität der von Mrs. Crandon im Folgenden beschworenen Geister angeht, so ist der außenstehende Betrachter natürlich auf subjektive Interpretationen angewiesen. Mrs. Crandon beruft sich hier jedoch auf den bekannten Autor und Militär Sir Arthur Conan Doyle, der ihre Deklarationen für echt erklärte und dessen Integrität selbstredend über jeden Zweifel erhaben ist.
     
    »O Gott!«, entfuhr es Lilian.
    Thomas Wilson grinste.
    »Ich meinte natürlich ... o Gott, wie konnte ich das vergessen! Mr. Wilson, es tut mir schrecklich leid, aber mein Mann hatte mich gebeten, noch ein paar kleine Änderungen an diesem Text vorzunehmen, ehe ich Ihnen die Reinschrift überreiche. Das hier ist natürlich nur der erste Entwurf, aber ich ... ich habe einfach nicht daran gedacht, und das Gekritzel hier ...«, sie tastete nach einem Zettel in ihrer Tasche, in dem Thomas Wilson unschwer das Briefpapier mit dem Gedicht erkannte, »kann ich Ihnen natürlich nicht zumuten.

Weitere Kostenlose Bücher