Der Ruf der Kiwis
ankommen.«
Gloria nickte und riss mit den Zähnen an einem Stück Nagelhaut.
»Es ist so weit ...«, sagte sie leise. Sarah gab ihr ein Taschentuch. Ihr Finger blutete.
Reverend Christopher Bleachum wartete am Bahnhof. Er hatte sich eine kleine Chaise geliehen, denn er besaß keine eigene Kutsche, er machte seine Besuche zu Pferde. Wenn er heiratete, würde er sich ein Gefährt anschaffen müssen. Christopher seufzte. Die Veränderungen würden enorm sein, wenn er sich tatsächlich eine Frau nahm. Bislang hatte er nie daran gedacht. Aber der Vorfall mit Mrs. Walker einige Monate zuvor ... und davor das Mädchen im Theologieseminar. Dabei konnte Christopher gar nichts dafür, dass die Frauen ihm nachliefen. Er sah einfach zu gut aus mit seinem lockigen, dunklen Haar, dem immer leicht gebräunt wirkenden Teint, den er wohl irgendwelchen Südländern in der Familie seiner Mutter verdankte, und den seelenvollen, fast schwarzen Augen. Christopher hatte sensible Züge, eine dunkle, sanfte Stimme, die ihn auch zu einem hervorragenden Sänger machte, und er konnte gut zuhören. Er schien den Menschen in die Seele zu blicken, wie seine begeisterten Pfarrkinder munkelten. Christopher nahm sich Zeit für sie und hatte für fast alles Verständnis. Aber er war bei all dem auch ein Mann. Wenn eine junge Frau um Zuspruch bat und dabei mehr Anlehnung brauchte, als Worte zu geben vermochten, konnte der Reverend sich nur schwer zurückhalten.
Bisher hatte es da zwei eher unangenehme Vorfälle gegeben – und Christopher musste sich eingestehen, dass er damit noch Glück gehabt hatte. Schließlich bemühte er sich um Diskretion, und meist waren auch die Frauen daran interessiert. Doch über Mrs. Walker, eine eher labile junge Ehefrau, deren Mann häufiger den Pub als ihr Bett besuchte, war geredet worden. So laut, dass selbst der Bischof davon erfuhr – jedenfalls nachdem Christopher gezwungen gewesen war, sich am Sonntag nach dem Gottesdienst mit dem Ehemann zu prügeln. Der Kerl hatte natürlich angefangen, aber Christopher konnte sich so etwas ja nicht gefallen lassen. Die Zeugen waren durchweg auf seiner Seite, der Bischof jedoch hatte trotzdem keinerlei Zweifel über seine Sicht der Dinge gelassen.
»Sie sollten heiraten, Reverend Bleachum. Um nicht zu sagen, Sie haben zu heiraten! Das ist Gott wohlgefällig und wird Sie vor weiteren Versuchungen bewahren ... ja, ja, ich weiß, Sie sind sich keiner Schuld bewusst. Weder jetzt noch vor zwei Jahren mit diesem Mädchen im Seminar. Aber sehen Sie es mal so: Es wird auch die Frauen davon abhalten, Sie als Freiwild zu betrachten. Eva wird es aufgeben, Sie zu versuchen ...«
Aber dafür hätte Christopher womöglich die Schlange am Hals. Die in Frage kommenden jungen Damen seiner Gemeinde erschienen ihm jedenfalls durchweg eher als Verdammnis denn als Versuchung. Und der Bischof würde ihn kaum ein paar Monate freistellen, um sich zum Beispiel in London nach etwas Passenderem umzusehen. Nachdem ihm dann noch ein Amtsbruder seine ausgesprochen gewöhnungsbedürftige Tochter angedient hatte, war Christopher in Panik geraten. Der letzte Brief seiner Cousine Sarah kam da gerade recht. Mit Sarah wechselte Christopher Briefe, seit beide Kinder waren, und er fand es immer wieder amüsant, wie unschuldig und verschämt sie auf seine kleinen Flirts und Anspielungen reagierte. Auf der Fotografie, die sie ihm gesandt hatte, sah sie zwar ein wenig hausbacken, aber doch recht ansprechend aus, und für den Posten der Pfarrersgattin war sie mehr als geeignet. Christopher war in seinem nächsten Brief also deutlicher geworden. Und dann schickte ihm der Zufall auch noch Sarahs Zögling in seinen Sprengel und ermöglichte der jungen Frau eine kostenlose Überfahrt. Christopher beschloss, Sarah Bleachum als gottgesandt anzunehmen. Wobei er nur hoffen konnte, dass der Herr des Himmels bei ihrer Schöpfung eine glücklichere Hand bewiesen hatte als bei den anderen unverheirateten Mädchen in seiner Umgebung.
Jetzt schlenderte Christopher über den Bahnsteig und zog schon wieder die Blicke der anwesenden Frauen auf sich.
»Guten Tag, Reverend!«
»Wie geht es Ihnen, Reverend?«
»Eine wunderschöne Predigt am Sonntag, Reverend, wir müssen im Frauenkreis noch einmal genauer auf das Gleichnis eingehen ...«
Die meisten der Damen waren längst zu alt, um Christopher in Versuchung zu führen. Aber die kleine Mrs. Deamer, die ihn jetzt anlächelte und von seiner Predigt schwärmte, hätte ihm
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