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Der Ruf der Kiwis

Der Ruf der Kiwis

Titel: Der Ruf der Kiwis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
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schön finden konnte. Sie mochte das Meer, saß oft stundenlang an Deck und sah den spielenden Delfinen zu. Es war ihr mehr als recht, dass die anderen Reisenden sie dabei in Ruhe ließen. Miss Bleachum und Lilian genügten ihr als Gesellschaft. Sie lauschte angeregt, wenn die Lehrerin ihr aus den extra mitgebrachten Büchern über Wale und Seefische vorlas, und versuchte zu ergründen, wie der Antrieb des Dampfschiffes funktionierte. Ihr nicht enden wollendes Interesse am Meer und an der Schifffahrt ließ sie dann auch Kontakt zu den Besatzungsmitgliedern finden. Die Matrosen sprachen das stille Mädchen an und versuchten es aus der Reserve zu locken, indem sie ihm Seemannsknoten vorführten und es schließlich bei kleinen Verrichtungen an Deck helfen ließen. Gloria fühlte sich dann fast wie zu Hause unter den Viehhütern auf Kiward Station. Schließlich nahm der Kapitän sie mit auf die Brücke, wo sie ein paar Sekunden lang das Steuer des Riesenschiffes halten durfte. Navigation interessierte sie ebenso wie das Tierleben auf See. Die künstlerischen Darbietungen, zu denen sich manche Passagiere am Abend aufrafften oder die Musik, die aus den Grammofonen drang, um die Menschen im Speisesaal zu unterhalten, ließen sie dagegen völlig kalt.
    Sarah Bleachum sah das alles mit Besorgnis. Ihr Cousin – der sich im Übrigen äußerst entzückt darüber äußerte, dass Sarah die Mädchen nach Canterbury begleitete – hatte ihr einen Prospekt von Oaks Garden zukommen lassen. Der Lehrplan bestätigte ihre ärgsten Befürchtungen. Naturwissenschaftliche Fächer spielten kaum eine Rolle. Stattdessen wurden die Mädchen dazu angehalten, zu musizieren, Theater zu spielen, zu malen und schöngeistige Literatur zu studieren. Sarah hätte Gloria niemals in ein solches Institut geschickt.
     
    Gloria verschlug es zum ersten Mal die Sprache, als das Schiff London erreichte. Noch nie hatte sie so große Häuser gesehen, zumindest nicht in dieser Menge. Auch in Christchurch und Dunedin baute man inzwischen monumental. Die Kathedrale von Christchurch zum Beispiel brauchte den Vergleich mit europäischen Sakralbauten nicht zu scheuen. Aber hier standen die Kathedrale, die Universität, das Christcollege und andere repräsentative Bauten doch ziemlich allein. Gloria konnte jedes Bauwerk für sich bewundern. Das Häusermeer der englischen Hauptstadt schien sie dagegen zu erdrücken. Dazu kam der unablässige Lärm: Die Hafenarbeiter, die Marktschreier, die Menschen auf den Straßen pflegten mit vollen Stimmen zu diskutieren. In London war alles lauter als zu Hause, alles lief schneller ab, man war ständig in Eile.
    Lilian blühte in dieser Atmosphäre auf. Sie redete bald genauso schnell wie die Engländer, lachte mit den Blumenmädchen und alberte mit den Hotelpagen herum. Gloria dagegen sagte gar nichts mehr, seit sie die Docks von London betreten hatte. Sie blickte nur noch mit großen Augen um sich und gab acht, Miss Bleachum nicht aus den Augen zu verlieren. Miss Bleachum, die immerhin in Wellington studiert hatte, kam mit dem Großstadtrummel ziemlich gut zurecht, verstand allerdings die Probleme ihrer Schülerin. Behutsam versuchte sie, Gloria aus ihrem Schneckenhaus zu holen und für irgendetwas zu begeistern, aber lediglich ein Zoobesuch erregte leises Interesse.
    »Den Löwen gefällt das nicht«, bemerkte Gloria, als sie die Tiere in ihren kleinen Käfigen betrachteten. »Hier ist zu wenig Platz. Und sie möchten auch nicht so angestarrt werden.«
    Stellvertretend für die Tiere hob sie die Hand vor Augen, während Lilian über die Späße der Affen lachte.
    Auch die Musicalvorstellung im Theater, für die Kura und William Karten hatten hinterlegen lassen – im Übrigen das einzige Lebenszeichen, das sie ihrer Tochter in London hinterließen, ehe sie nach Russland aufbrachen –, konnte Gloria nicht fesseln. Sie fand die Sänger gekünstelt, die Musik zu laut, und sie fühlte sich nicht wohl in den Kleidern, die sie in London tragen musste.
    Sarah Bleachum wunderte das nicht. Lilian sah in ihrem Matrosenkleidchen entzückend aus, aber an Gloria wirkte es wie eine Kostümierung. Über die Schulkleidung brach das Mädchen dann sogar in Tränen aus. Faltenrock und Blazer standen ihr nicht; sie wirkte gedrungen in dem knielangen Rock und der hüftlangen Jacke, und die weiße Bluse ließ ihre Haut teigig aussehen. Dazu hielt sie den Anforderungen von Glorias Alltag nicht stand. Gloria wollte alles anfassen, hautnah erleben,

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