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Der Ruf der Kiwis

Der Ruf der Kiwis

Titel: Der Ruf der Kiwis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
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der Ärzte und Frontsoldaten wurden nicht erhört.
    Stattdessen dröhnten kurz nach Tagesanbruch die ersten Maschinengewehrsalven. Neue Angriffswellen, neue Tote.
    Die »Schlacht um Lone Pine«, wie man die August-Offensive später nach dem am heißesten umkämpften Schützengraben nannte, endete erst fünf Tage später. Erfolgreich, laut Heeresbericht.
    Das ANZAC war hundert Yards weiter ins Land der Türken vorgedrungen. Sie erkauften den Vorstoß mit neuntausend Toten.
     
    Roly fand Jack am Morgen des zweiten Tages – bevor die ersten neuen Verwundeten eintrafen und die todmüden Ärzte erneut zum Skalpell griffen. Unter den Hunderten von frisch operierten Männern, die in dichten Reihen und nur notdürftig versorgt auf den Feldbetten lagen, hätte er ihn stundenlang suchen müssen, wären da nicht Paddy und Dr. Beeston an seinem Bett gewesen. Jack war nicht bei Bewusstsein, aber er atmete und spuckte kein Blut mehr. Der Arzt inspizierte eben seine Wunde.
    »O’Brien?«, fragte er, als Roly näher trat. Dr. Beestons Gesicht wirkte fast so blass und eingefallen wie das seines Patienten. »Verdankt er Ihnen, dass er hier ist?«
    Roly nickte schuldbewusst. »Ich konnte ihn nicht liegen lassen, Sir«, gab er zu und wurde rot. »Ich bin mir natürlich bewusst, dass ... Ich bin bereit, die Konsequenzen zu tragen.«
    »Ach, lassen Sie das«, seufzte Beeston. »Ob dieser stirbt und jener lebt, wen interessiert das? Außer uns vielleicht. Wenn es Sie beruhigt, ich habe meine Kompetenzen ebenfalls überschritten – oder ausgedehnt, gelinde gesagt. Wir haben unsere Richtlinien. Wir sollten nicht Gott spielen.«
    »Hätten wir das nicht auch getan, indem wir ihn liegen gelassen hätten, Sir?«, fragte Roly.
    Beeston zuckte die Schultern. »Nicht in dem Sinne, O’Brien, damit hätten wir uns an die Richtlinien gehalten. Gott – und verstehen Sie das ruhig als Lästerung – kennt keine Richtlinien.«
    Der Arzt deckte Jack vorsichtig zu. »Kümmern Sie sich um ihn, O’Brien. In diesem Chaos hier wird er sonst vergessen. Ich werde veranlassen, dass er heute noch auf die 
Gascon
 gebracht wird ...«
    Die 
Gascon
 war das bestausgerüstete Hospitalschiff.
    »Nach Alexandria, Sir?«, fragte Roly hoffnungsvoll. Die Verlegung ins Militärkrankenhaus in Alexandria bedeutete für einen Verwundeten meist ein Ende des Krieges.
    Beeston nickte. »Und Sie begleiten ihn«, sagte er ruhig. »Das heißt, Sie begleiten den Transport. Für Sie hat nämlich auch jemand Gott gespielt, O’Brien. Jemand mit guten Verbindungen. Ihr Marschbefehl zurück nach Neuseeland kam gestern mit der Verstärkung. Angeblich kann ein sehr kriegswichtiger Invalide in Greymouth ohne Ihre Pflege nicht existieren. Ohne Sie, O’Brien, käme die gesamte neuseeländische Kohleförderung zum Erliegen. So wurde es jedenfalls dargestellt.«
    Trotz des Ernstes der Situation konnte Roly ein Grinsen nicht unterdrücken.
    »Das ist zu viel der Ehre, Sir!«, bemerkte er.
    Beeston verdrehte die Augen.
    »Ich wage das nicht zu beurteilen. Also packen Sie Ihre Sachen, Soldat! Kümmern Sie sich um Ihren Freund, und bleiben Sie um Himmels willen aus der Schusslinie, damit Ihnen jetzt bloß nichts mehr passiert. Die 
Gascon
 läuft um fünfzehn Uhr aus.«
     
    Jack war dem Tod deutlich näher als dem Leben, als das Hospitalschiff in Ägypten eintraf, aber er war zäh. Dazu trug Rolys intensive Pflege maßgeblich zu seinem Überleben bei. Es gab viel zu wenig Sanitäter für die Vielzahl Schwerstverwundeter. Ein Teil der Männer starb noch auf dem Schiff, andere kurz nach der Ankunft in Alexandria. Jack hielt jedoch durch und kam irgendwann auch wieder zu Bewusstsein. Er schaute um sich, registrierte das Leid um sich herum und sein Überleben – aber er war ein anderer geworden. Jack redete nicht mehr. Er war nicht verstockt oder mürrisch wie viele andere Überlebende, die über ihren Zorn und ihre Angst vor der Zukunft verstummten. Jack antwortete höflich auf die Fragen der Ärzte und Schwestern. Darüber hinaus schien er aber einfach nichts zu sagen zu haben.
    Rolys Scherze und aufmunternde Worte quittierte Jack mit Schweigen – und er machte keine Anstalten, seine Schwäche zu überwinden. Er schlief, oder er starrte schweigend zunächst auf die Decke über seinem Bett und dann, viel später, wenn er am Fenster sitzen durfte, hinaus in den meist blauen Himmel über Alexandria. Jack hörte auf den immer gleichen Ruf des Muezzins aus dem Turm der Moschee über der

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