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Der Ruf der Kiwis

Der Ruf der Kiwis

Titel: Der Ruf der Kiwis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
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Armee wütender Geister, deren Seelen ihr Kraft gaben.
    Gloria selbst brauchte keine Geister. Und sie wartete keine Erwiderung ab. Hoch erhobenen Hauptes verließ sie das 
wharenui
 und ihren Stamm.
    Sie rannte erst, als die Tür sich hinter ihr schloss.
     

FRIEDEN

Dunedin, Kiward Station, Christchurch
1917–1918

1
    Jack McKenzie starrte hinaus auf den Horizont, an dem langsam weißer Dunst sichtbar wurde. Neuseeland – Land der weißen Wolke. Wie es aussah, würde sich ihm die Südinsel an diesem Tag so präsentieren wie damals dem ersten Einwanderer aus Hawaiki. Die Männer um ihn herum begrüßten den ersten Blick auf ihr Heimatland. Der Kapitän hatte ausrufen lassen, dass man sich dem Zielort näherte, und wer immer gehen oder sich in Rollstühlen schieben lassen konnte, war an Deck gekommen. Um Jack herum wurde gelacht, aber auch geweint. Für viele Gallipoli-Veteranen war es eine bittere Heimkehr – und keiner war mehr der gleiche Mann, der damals gegangen war.
    Jack schaute hinaus aufs Wasser, die Wellen machten ihn schwindelig. Vielleicht, dachte er, sollte ich wieder unter Deck gehen; der Anblick der Männer um ihn her deprimierte ihn. All diese Jungen, denen man Arme und Beine abgeschossen hatte, die blind und lahm, krank und stumm aus dem Krieg kamen, in den sie singend, lachend und winkend gezogen waren. Alles für nichts. Ein paar Wochen nach der letzten Offensive, bei der auch Jack verwundet worden war, hatte man die Truppen aus Gallipoli abgezogen. Die Türken hatten gesiegt – aber auch sie hatten ihr Land mit Blut erkauft. Jack fühlte eine bleierne Schwere. Nach wie vor musste er sich zu jeder Bewegung zwingen, auch heute hatte er sich nur an Deck geschleppt, weil Roly darauf bestanden hatte. Der erste Blick auf die Heimat – Aotearoa. Jack dachte an Charlotte. Er fror.
    »Ist Ihnen kalt, Mr. Jack?« Roly O’Brien legte Jack fürsorglich eine Decke um die Schultern. Es war kühl an Bord. Und dort, am Strand von Gallipoli, würde bald wieder die Sonne brennen. »Die Schwestern bringen gleich heißen Tee. Die Männer werden ja an Deck bleiben wollen, bis das Land richtig sichtbar wird. Es ist aufregend, Mr. Jack! Wird es wohl noch lange dauern, bis wir anlegen?«
    »Nur ›Jack‹, Roly ...«, sagte Jack müde. »Wie oft soll ich es dir noch sagen? Und es wird Stunden dauern, bis wir anlegen. Das Land ist noch viele Meilen weit weg. Man sieht es ja noch gar nicht. Nur den Nebel, der darüberliegt.«
    »Aber bald wird es auftauchen, Mr. Jack!«, rief Roly optimistisch. »Wir kommen nach Hause! Wir sind am Leben, Mr. Jack! Weiß Gott, es gab Tage, da habe ich nicht mehr dran geglaubt! Nun freuen Sie sich doch ein bisschen, Mr. Jack!«
    Jack versuchte, Freude zu spüren, empfand jedoch nur Müdigkeit. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht gewesen, ewig zu schlafen ... aber dann schalt er sich wegen seiner eigenen Undankbarkeit. Er hatte nicht sterben wollen. Nur Gott versuchen. Und nun war er an einem Punkt angelangt, an dem ihm selbst das gleichgültig war ...
     
    Jack McKenzie verdankte sein Überleben einer Kette glücklicher Umstände, aber vor allem Roly O’Brien und einem kleinen Hund. Roly und sein Bergungskommando hatten die Zeit zwischen zwei Angriffswellen genutzt, um die Toten und Verletzten vom Schlachtfeld zu holen – oder besser gesagt aus dem Niemandsland zwischen den gegnerischen Schützengräben, auf dem die Türken das ANZAC abschossen wie die Hasen. Der Angriff war von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen; Jack und alle anderen Veteranen der türkischen Offensive hätten dem Oberkommando das sagen können. Im Frühjahr hatten sie ein Zielschießen auf den anrennenden Feind veranstaltet – im August war die Lage umgekehrt. Sie hätten mehr als zehntausend Mann gebraucht, um die türkischen Gräben zu überrennen; aber vielleicht wäre es auch mit hunderttausend nicht geglückt. Schon nach den ersten Angriffswellen war die Ebene schließlich mit den Körpern der Toten und Verwundeten übersät, und es war reine Freundlichkeit der Türken, die Bergungstrupps unbehelligt zu lassen. Ansonsten hätten die Briten sich eine Barrikade aus Leibern gebaut, die rennend nicht zu überwinden war. Auch eine zehnte und zwanzigste Angriffswelle wäre dann im Feuer der Feinde gestorben – solange die Türken Munition hatten. Und die Nachschubwege nach Konstantinopel funktionierten tadellos. Die Türken jedenfalls fühlten sich sicher und erlaubten den feindlichen Sanitätern

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