Der Ruf der Kiwis
ein ungewöhnlich warmer Tag für die Jahreszeit, und die Schwestern hatten die Kranken in den Garten gebracht. Frische Luft galt als heilsam. Frische Luft und Ruhe. »Wie soll das noch enden, Mr. Jack? Wird jemand gewinnen, oder kämpfen wir einfach immer weiter?«
Jack zuckte die Achseln. »Es haben schon alle verloren«, sagte er leise. »Aber am Ende wird es natürlich ein großer Sieg sein, wer immer ihn feiern möchte. Ich hätte übrigens auch Grund zum Feiern. Die Ärzte schicken mich nach Hause.«
»Im Ernst, Mr. Jack? Wir fahren nach Hause?« Roly strahlte über sein immer noch rundes Gesicht, in dem der Krieg allerdings seine Spuren hinterlassen hatte.
Jack lächelte schwach. »Sie stellen einen Transport mit Kriegsinvaliden zusammen. All die Amputierten und Blinden, die sie nicht gleich nach Hause schicken konnten oder wollten ...«
Die meisten Gallipoli-Opfer hatte man von Alexandria aus zurück nach Polynesien geschickt. Inzwischen aber verloren die Männer Aotearoas ihre Gesundheit auch in Frankreich und an anderen Kriegsschauplätzen. Man pflegte sie meist einige Zeit in England, bevor man ihnen die Reise zumutete.
»Dann kann ich doch gleich mitfahren«, freute sich Roly. »Brauchen die keine Pfleger?«
»Sie suchen Freiwillige unter den Krankenschwestern«, sagte Jack.
Roly strahlte übers ganze Gesicht. »Ist schon komisch«, meinte er dann. »Als das losging, wollte ich in den Krieg, damit sie mich nicht mehr ›Krankenbruder‹ riefen. Und jetzt wär ich glatt bereit, einen Rock anzuziehen, um als ›Schwester‹ heimzukommen!«
Und nun also Neuseeland. Der erste Blick auf die Südinsel – für diejenigen, die noch sehen konnten. Jack wusste, dass er dankbar sein sollte. Aber er fühlte wieder nichts als Kälte. Dabei war die Aussicht auf das Land im Nebel, aus dem sich die Gipfel der fernen Alpen wie schwebend erhoben, von atemberaubender Schönheit. Das Schiff würde in Dunedin anlegen. Jack fragte sich, ob Roly Tim Lambert und die Lamberts Gwyneira von ihrer Ankunft verständigt hatten. Wenn ja, würde die Familie ihn sicher am Kai erwarten. Jack graute davor. Aber er hatte realistische Chancen, dass es nicht der Fall war. Die Post war kriegsbedingt langsam; selbst zu normalen Zeiten hätte Roly jedoch viel Glück haben müssen, damit sein Brief vor ihm in Greymouth eintraf.
In Dunedin würde Jack wieder in einem Krankenhaus untergebracht werden. Allerdings nur kurz; er galt als geheilt.
»Sie husten nicht mehr, Sie haben keine Lungengeräusche ... das Einzige, was mir nicht gefällt, ist diese Schwäche«, erklärte ihm der Arzt in England. »Aber da müssen Sie sich vielleicht auch etwas zusammennehmen. Stehen Sie auf, laufen Sie herum! Nehmen Sie ein bisschen mehr am Leben teil, Sergeant Major McKenzie!«
In den letzten Tagen in Alexandria hatte Jack zu seiner Verwunderung erfahren, dass man ihn in Anbetracht seiner Tapferkeit in der Schlacht von Pine Creek noch einmal befördert und ihm einen Orden verliehen hatte. Er hatte sich das Metallstück nicht einmal angesehen.
»Willst du ihn haben?«, fragte er, als Roly ihn dafür rügte. »Hier, nimm ihn, du hast ihn mehr verdient als ich. Zeig ihn deiner Mary, leg ihn an, wenn du sie heiratest. Kein Mensch wird dich nach der Urkunde fragen.«
»Das meinen Sie nicht ernst, Mr. Jack!«, meinte Roly mit begehrlichem Blick auf die Samtschatulle. »Ich kann doch nicht ...«
»Natürlich kannst du!« Jack nickte. »Er wurde dir hiermit verliehen.« Mühsam öffnete er das Kästchen. »Knie nieder, oder was man in solchen Fällen tut, und ich übergebe ihn dir.«
Roly steckte sich stolz den Orden ans Revers, als das Schiff im Hafen von Dunedin einfuhr. Auch viele andere Männer schmückten sich mit ihren Trophäen. Sie mochten keine Arme und Beine mehr haben, aber sie waren Helden.
Die Menschenmenge, die sie am Hafen begrüßte, war allerdings erheblich kleiner als bei der Abfahrt. Hauptsächlich bestand sie aus Angehörigen der Kranken, die bei ihrem Anblick nicht jubelten, sondern weinten, sowie Ärzten und Schwestern. Das Sanatorium in Dunedin – wie man hörte, eine umfunktionierte Mädchenschule – hatte drei Wagen und einige Betreuer geschickt.
»Ist es Ihnen denn recht, Mr. Jack, wenn ich Sie jetzt verlasse?«, fragte Roly – nicht zum ersten Mal; er hatte seine Pläne schon mehrmals vor Jack ausgebreitet. Spätestens am Tag nach der Ankunft in Dunedin wollte er nach Greymouth aufbrechen, und nun, da das Schiff
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