Der Ruf der Kiwis
Stadt und dachte über Dr. Beestons Ausspruch nach, den Roly ihm hinterbracht hatte: Gott hält sich nicht an Regeln. Er fragte sich, ob es dann überhaupt Sinn hatte, zu ihm zu beten, aber damit hatte er ohnehin schon lange aufgehört.
Jacks Genesung zog sich über Monate hin. Zwar heilte die Wunde, aber er magerte ab und litt unter ständiger Müdigkeit. Roly blieb an seiner Seite. Er beachtete seinen Marschbefehl nicht weiter, und die Stabsärzte in Alexandria fragten nicht nach. Das Hospital war hoffnungslos überbelegt; jeder Pfleger wurde gebraucht. Zudem hatte sich die Dringlichkeit seines Einsatzes in der Heimat deutlich verringert, nachdem Tim Lambert seinen Roly außerhalb der Schusslinie wusste. Er schrieb gelegentlich nach Hause und erhielt Briefe von Mary und den Lamberts. Auch Briefe für Jack McKenzie trafen ein. Roly wusste nicht, ob er sie las. Jack selbst schrieb niemandem.
Im Dezember 1915 evakuierte die Britische Führung den Strand von Gallipoli, den man inzwischen nur noch »ANZAC-Beach« nannte. Der Abzug der Truppen ging geordnet und ohne weitere Verluste vonstatten. Die Briten schafften ihre Leute praktisch ohne Wissen der Türken aus dem Land. Zuletzt wurden die Gräben gesprengt.
Roly berichtete Jack atemlos von der erfolgreichen Aktion.
»Und zum Schluss haben sie den Kerlen noch eins versetzt!«, erzählte er begeistert. »Bei der Sprengung sind jede Menge Türken draufgegangen!«
Jack senkte den Kopf.
»Und wofür, Roly?«, fragte er leise. »Vierundvierzigtausend Tote auf unserer Seite – bei den Türken noch mehr, heißt es. Und alles für nichts.«
In der Nacht träumte er wieder von der Schlacht im Schützengraben. Wieder und wieder stieß er Bajonette und Spaten in die Körper seiner Gegner. In vierzigtausend Körper ... Als er schweißgebadet erwachte, schrieb er an Gloria und berichtete vom Abzug der ANZAC-Truppen. Er wusste, dass sie den Brief nie lesen würde, aber es erleichterte ihn, die Geschichte zu erzählen.
Im Winter plagte Jack hartnäckiger Husten. Ein Militärarzt sah seine Magerkeit und Blässe, diagnostizierte Tuberkulose und ordnete Jacks Verlegung in ein Sanatorium bei Suffolk an.
»Nach England, Sir?«, erkundigte sich Roly. »Können wir nicht nach Hause? Da gibt es bestimmt auch Lungenheilstätten ...«
»Keine militärischen Einrichtungen«, meinte der Arzt kurz. »Sie, Mr. O’Brien, können selbstverständlich nach Hause. Wir würden das sogar begrüßen. Sie haben sich hier zwar sehr nützlich gemacht, aber Sie sehen ja, dass sich das Hospital langsam leert. Es fällt auf, wenn wir dann noch einen Zivilisten beschäftigen.«
»Aber ich bin nicht offiziell entlassen ...«, wandte Roly ein.
»Sie haben nur einen sechs Monate alten Marschbefehl«, lächelte der Arzt. »Machen Sie, was Sie wollen, O’Brien, aber verschwinden Sie hier. Von mir aus schmuggeln wir Sie auch auf das Schiff nach England. Aber Ihre Einheit sollten Sie endlich verlassen, bevor Sie noch jemand nach Frankreich schickt!«
Die aus Gallipoli abgezogenen ANZAC-Truppen wurden inzwischen teils in Frankreich, teils in Palästina eingesetzt.
Roly suchte sich Arbeit auf einem Bauernhof, während Jack in der fahlen Sonne eines englischen Frühlings lag und diesmal in einen mattblauen Himmel starrte. Sooft es ging, besuchte er seinen »Mr. Jack«, und als die Dienste des Sanatoriums auf die Versorgung von Kriegsinvaliden ausgeweitet wurden, fand er sogar einen Job als Pfleger. Tim Lambert stellte ihn weiterhin frei, bat aber um regelmäßige Nachricht von Jack. Seine Mutter, so schrieb er, sei höchst beunruhigt. Roly konnte das nachvollziehen. Die gestrenge Mrs. O’Brien hätte ihm sonst was erzählt, hätte er sie ein Jahr lang über sein Wohlergehen im Ungewissen gelassen. Jack schwieg jedoch zu seinen Vorwürfen und dem Angebot, ihm wenigstens einen Brief zu diktieren.
»Was soll ich schreiben, Roly?«
Jack sah das Korn auf den Feldern reifen; er hörte den Gesang der Schnitter und beobachtete, wie der Herbst die Blätter gelb färbte. Im Winter starrte er in den Schnee und sah doch nur den blutigen Sand von Gallipoli. Und es verging ein weiteres Jahr, in dem er keine gesundheitlichen Fortschritte machte. Manchmal dachte er an Charlotte, aber Hawaiki war weit, weiter noch als Amerika, oder wo immer Gloria sein mochte.
»Dreieinhalb Jahre, und immer noch Krieg ...«, murmelte Roly und blätterte in der Zeitung, die neben Jacks Liege auf dem Tisch lag. Es war
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