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Der Ruf der Kiwis

Der Ruf der Kiwis

Titel: Der Ruf der Kiwis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
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Köpfe in unseren Reihen haben ein Periskop entwickelt. Mittels eines Stabes und zweier Spiegel kann man nun ungefährdet hinausschauen. Sie basteln auch noch an einer Schießvorrichtung.
    Aber im Grunde haben die Türken die besseren Karten. Sie halten einfach die erhöhten Stellungen in den Bergen – wenn ihre Waffen weiter reichten, könnten sie in unsere Gräben hineinschießen. Zum Glück ist das nicht der Fall. Aber wie wir dieses Land erobern sollen, entzieht sich meiner Vorstellungskraft.
     
    Ich denke in diesen Tagen viel über Mut nach, Gloria. Vor einer Woche haben die Türken einen Ausfall gewagt, mit einer schier unglaublichen Tapferkeit. Wir haben Tausende von ihnen niedergemäht, aber sie sprangen dennoch immer weiter aus ihren Gräben und versuchten, die unseren zu stürmen. Am Ende waren zweitausend Türken tot. Kannst Du Dir das vorstellen, Gloria? Zweitausend tote Männer? Irgendwann hielten wir inne mit dem Schießen – ich weiß nicht, ob es jemand befohlen hat oder ob sich einfach Menschlichkeit regte. Die Bergungstrupps der Türken holten die Toten und Verletzten aus dem Niemandsland. Und dann kam die nächste Angriffswelle. Ist das nun Mut oder Dummheit, Gloria? Oder Verzweiflung? Schließlich ist es ihr Land, ihre Heimat, die sie hier verteidigen. Was würden wir tun, wenn es um unsere Heimat ginge? Und was tun wir hier?
     
    Glorias Herz pochte wild, als sie diese Zeilen las. Würde Jack vielleicht auch verstehen, was sie getan hatte, um zurück nach Kiward Station zu kommen? Um sich abzulenken, griff sie wieder zum Zeichenstift.
     
    Kiward Station war nach dem Abtrieb der Schafe von Leben erfüllt. Überall standen Tiere in den Paddocks, ständig musste gefüttert und gemistet werden. Gwyneira erarbeitete einen aufwändigen Plan zur Ausnutzung noch vorhandener Grünflächen – sie sah das spärliche Heu schwinden, das sie im Frühjahr vor dem Regen hatten retten können. Doch weder Jack noch Gloria machten sich besonders nützlich beim Umtreiben der Tiere und Beaufsichtigen der Männer. Jack verschanzte sich nach wie vor in seinem Zimmer, und auch Gloria neigte in letzter Zeit zum Rückzug.
    In ihrer Verzweiflung sprach Gwyneira erneut mit Maaka darüber, doch der Maori erklärte nur kurz, er brauche das Mädchen nicht.
    »Sie vergrault mir nur die Männer«, bemerkte er knapp, und Gwyneira fragte nicht weiter nach. Sie fühlte sich an den katastrophalen Führungsstil ihres Sohnes Paul erinnert und unterstellte Gloria die gleichen Fehler. Ein- oder zweimal versuchte sie, ihre Urenkelin darauf anzusprechen, aber wieder einmal bewies sie wenig Diplomatie.
    Statt Gloria selbst nach den Vorkommnissen zu fragen, auf die Maaka anspielte, machte sie ihr Vorwürfe. Gloria wies sie empört zurück und rannte schließlich in ihr Zimmer.
    Gwyneira ahnte nicht, dass sie dort vor Wut und dem Gefühl der Hilflosigkeit weinte. Sie hätte Unterstützung gebraucht; tatsächlich aber stellte Grandma Gwyn sich auf die Seite ihrer Gegner.
    Von Jack war ebenfalls keine Hilfe zu erwarten. Das Leben auf der Farm schien einfach an ihm vorbeizurauschen; er nahm nicht daran teil.
    Gwyneira meinte manchmal, über alldem verrückt zu werden. Sie hielt nach wie vor am gemeinsamen Abendessen der ganzen Familie fest, Jack und Gloria hüllten sich jedoch nur in Schweigen, wenn sie zum Beispiel von der Heuknappheit und ihren Sorgen um die Versorgung der Tiere auf der Farm sprach. Jack schien gar nichts zu hören; Gloria biss sich offensichtlich auf die Lippen. Sie hatte in den ersten Wochen des Winters gelegentlich Vorschläge eingebracht, aber Gwyneira hatte nie etwas davon hören wollen. Schließlich bedeuteten Glorias Einwände meist nur neue Schwierigkeiten.
    »Das Land um den Ring der Steinkrieger ist nicht 
tapu
«, bemerkte das Mädchen zum Beispiel. »Wenn Futterknappheit herrscht, kannst du es abweiden lassen, es sind fast zwei Hektar. Natürlich ist es schöner, wenn das Heiligtum auf unberührtem Land steht, aber das Gras wächst schließlich wieder nach. Den Göttern ist es egal, und Tonga soll sich nicht so anstellen.«
    Gwyneira hatte sich über die Idee empört – schließlich gestanden sie den Maoris ihr Heiligtum schon seit Jahrzehnten zu, und daran wollte sie jetzt nicht rütteln. Gut, Tonga hatte das Land, auf das er Anspruch erhob, immer mal wieder ausgedehnt, aber Gwyneira wollte keinen Streit. Auch jetzt nicht.
    Gloria fühlte sich erneut verraten und schwieg.
     
    Kurz nach Weihnachten

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