Der Ruf der Kiwis
Sonnenlicht dämpften. Die Berge, sonst ein erhebender Anblick im Hintergrund der Plains, wirkten an diesem Morgen wie bedrohliche Schatten, nur schemenhaft erkennbar hinter dem Vorhang aus Regen. Auf den Wirtschaftswegen, weitgehend unbefestigt, versank man schon seit Wochen im Morast, an schnelles Vorwärtskommen war nicht zu denken. Die ersten zartgrünen Grasspitzen, die der Frühling erweckt hatte, wurden von Regen und Wind gnadenlos zu Boden gedrückt. Jack hoffte, dass es wenigstens nicht hagelte.
Erst gegen Mittag kamen sie auf Wege mit festerem Untergrund. Hier wurde selten geritten und nie gefahren, der Boden wurde folglich fester; man konnte die Pferde traben und galoppieren lassen. Jack legte ein flottes Tempo vor, versuchte die Pferde aber auch nicht zu überfordern. Die Pausen fielen ohnehin kurz aus; bei dem Regen mochte niemand ohne Unterstand rasten. Gegen Abend stießen sie auf die Herde junger Widder, die Gloria schon so oft von Tongas heiligem Grund getrieben hatten. Sie waren offensichtlich auf dem Weg nach Hause.
»Aufgeweckte Kerlchen!«, lobte Jack. »Wir nehmen sie jetzt erst mal mit. Wir übernachten heute in der Wachhütte am Gabler’s Creek. Da können sie auch weiden. Morgen reitet Tane mit ihnen nach Hause.«
Maramas Jüngster schien hin und her gerissen zwischen dem Unwillen, das Abenteuer jetzt schon zu beenden, und dem Stolz, ganz allein eine Schafherde treiben zu dürfen. Er besaß einen Sheepdog, den er recht geschickt führte. Jack war sich sicher, dass er gut nach Hause kommen würde. Eine Sorge weniger – die Verantwortung, die er für Tane übernehmen musste, hatte ihn belastet.
Als sie weiterritten, lenkte er sein Pferd neben Gloria. Er hatte sie zusammenzucken sehen, als er die Hütte erwähnte. »Wir können ein Zelt für dich aufbauen«, meinte er. »Oder du schläfst im Stall. Aber da lasse ich dich ungern allein ...«
»Im Zelt wäre ich auch allein«, bemerkte Gloria.
»Aber zwischen deinem Zelt und der Hütte stände meins«, sagte Jack. Er suchte ihren Blick, doch sie schaute ihm nicht in die Augen.
Im Grunde graute ihm davor, jetzt noch im Regen Zelte aufzubauen; andererseits scheute er die Gemeinschaftsunterkunft in der Hütte genau wie Gloria.
»Dann kannst du ...« Gloria hielt den Kopf gesenkt und sprach sehr leise. »Dann kannst du eigentlich auch im Stall schlafen.«
In der Hütte wäre es gemütlicher gewesen. In der Zeit der Viehdiebstähle durch James McKenzie hatten die Schafbarone überall in den Bergen solche Blockhütten errichtet und den Sommer über bemannt. Es waren stabile kleine Bauten mit Feuerstelle und Alkoven. Die Männer machten Feuer im Kamin und boten Gloria sofort eines der Betten an.
»Miss Gloria möchte lieber im Stall schlafen«, lehnte Jack ab, »aber zunächst macht ihr bitte Platz am Kamin, damit sie sich aufwärmen kann. Wer kocht?«
Wiremu machte den Vorschlag, die Männer im Stall schlafen zu lassen. Widerwillig stimmten die anderen zu. Doch Gloria schüttelte den Kopf. »Dann haben wir keinen Platz mehr für die Pferde«, erklärte sie. »Und ich will keine Extrabehandlung. Es gibt hier Platz für alle. Wenn ich die Gemeinschaftsunterkunft nicht teilen möchte, ist das meine Sache.«
Schließlich schlüpfte Gloria in ihren Schlafsack und rollte sich neben Ceredwen im Stroh zusammen, das sie ausreichend warm hielt. Nimue und zwei der Welpen kuschelten sich an sie und hätten für weitere Wärme gesorgt, wären sie nicht völlig durchnässt gewesen. Jack sprach ein Machtwort und befahl sie in eine Ecke des Stalls.
»Die behalten wir aber hier, nicht?«, fragte Gloria mit Blick auf die kleinen Hunde. Sie beobachtete befangen und ängstlich, wie Jack seinen Schlafsack ausbreitete. Am anderen Ende des Stalles, direkt an der Verbindungstür zwischen Hütte und Scheune.
Jack lächelte. »Ja, ich glaube, die behalten wir hier.« Er war glücklich über das »wir« und atmete auf, als er gleich darauf Glorias gleichmäßigen Atem hörte. Er wusste noch, wie er darauf gelauscht hatte, als sie ein Kind gewesen war. Damals war sie oft zu ihm ins Bett gekrochen und hatte ihm von ihren Träumen erzählt, vor allem, wenn sie Albträume gehabt hatte. Es war ihm manchmal auf die Nerven gefallen.
In dieser Nacht war Jack froh, dass sie nicht reden wollte – noch nicht.
Am nächsten Morgen klarte es kurz auf, und gegen Mittag trafen sie auf die nächsten Schafe. Das Zusammentreiben war kein Problem. Die Maoris machten Feuer und
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