Der Ruf der Kiwis
inzwischen von uns
pakeha
gelernt ...«, wisperte Charlotte weiter. »Findest du nicht, man kann es lernen?«
Jack schluckte. »Zweifellos«, meinte er. »Wenn sich der richtige Lehrer findet ...«
»Ich hab’s noch nie getan«, bemerkte Charlotte.
Jack lächelte. Dann nahm er sie vorsichtig in die Arme.
»Sollen wir mit Nasereiben anfangen?«, neckte er sie, schon um seine eigene Nervosität zu überspielen.
Aber Charlotte hatte die Lippen bereits geöffnet. Es gab nichts, was sie lernen mussten. Jack und Charlotte waren füreinander bestimmt.
Ihr Aufgehen in der jungen Liebe ließ Charlotte ihre Studien allerdings nicht vernachlässigen. Sie machte sich einen Spaß daraus, in der Sprache der Maoris mit Jack zu flirten, und fand zudem in James McKenzie einen geduldigen Lehrer. Nach drei Monaten auf Kiward Station konnte sie nicht nur den alten Zungenbrecher problemlos aussprechen, sondern hatte auch schon die ersten Maori-Mythen sowohl in Englisch als auch in der Originalsprache zu Papier gebracht. Letzteres natürlich mit Hilfe von Marama, die ihre Arbeit nach Kräften unterstützte. Charlotte hatte das Gefühl, als ob die Zeit raste. Aber dann gab es doch gewichtige Gründe, ihren Aufenthalt zu beenden.
»Ich würde natürlich gern länger bleiben«, erklärte sie ihren Eltern, die gekommen waren, um ihre Tochter abzuholen. »Aber ich fürchte, das schickt sich nicht.«
Dabei errötete sie und lächelte verschämt zu Jack hinüber. Der hätte beinahe die Gabel fallen lassen. Er hatte sich eben mit einem Stück Lammbraten bedienen wollen, schien jetzt aber den Appetit zu verlieren.
Der junge Mann räusperte sich. »Ja ... äh ... die Maoris sehen das ja anders, aber wir wollen doch die alten
pakeha
-Bräuche beibehalten. Und da ... nun ja, wenn ein Mädchen verlobt ist, schickt es sich nicht, wenn es unter einem Dach mit seinem zukünftigen Mann ...«
Charlotte tätschelte zärtlich Jacks nervös mit der Serviette spielende Hand. »Jack, du wolltest es doch richtig machen!«, sagte sie mit sanftem Tadel. »Du hättest meinen Vater jetzt um eine Unterredung unter vier Augen bitten und förmlich um meine Hand anhalten müssen ...«
»Kurz und gut, es scheint, als hätten die jungen Leute sich verlobt«, bemerkte James McKenzie, stand auf und entkorkte eine besonders gute Flasche Wein. »Ich bin achtzig, Jack. Ich kann nicht mehr warten, bis du es endlich schaffst, eine einfache Frage zu stellen. Zumal die Sache wohl ohnehin längst entschieden ist. Und in meinem Alter sollte man seinen Braten frisch essen, sonst wird er zäh, und das Kauen fällt schwer. Also stoßen wir jetzt kurz auf Jack und Charlotte an und widmen wir uns dann dem Abendessen! Irgendwelche Einwände?«
George und Elizabeth Greenwood erhoben keinen Einspruch. Im Gegenteil, beide zeigten sich erfreut über die Verbindung. Natürlich würde in den besseren Kreisen von Christchurch und den Canterbury Plains getuschelt werden. Zwar erfreute sich Jack allseitiger Achtung, aber die Schafbarone hatten natürlich nicht vergessen, dass der junge Mann der Liaison Gwyneiras mit einem Viehdieb entstammte. Die größten Klatschbasen würden sich auch noch daran erinnern, dass zwischen der Hochzeit der McKenzies und Jacks Geburt nicht ganz neun Monate verstrichen waren, und natürlich wusste jeder, dass Jack nicht der Erbe von Kiward Station war, sondern bestenfalls einen Verwalterposten bekleiden konnte. Die Tochter des schwerreichen George Greenwood hätte zweifellos eine bessere Partie machen können. George ließ das allerdings kalt. Er würde Charlotte eine ordentliche Mitgift geben, und er kannte Jack als fleißigen, verlässlichen Arbeiter, der obendrein einige Semester Landwirtschaft studiert hatte. Selbst wenn Kura-maro-tini Martyn die Farm irgendwann verkaufte oder sich mit den McKenzies überwarf, oder falls Gloria Martyn die Leitung selbst übernehmen wollte, würde sich immer ein Verwalterposten für Jack finden. George machte sich folglich keine Gedanken um die Versorgung seiner Tochter. Er wollte sie vor allem glücklich sehen – und verheiratet! Über eine Suffragette in der Familie Greenwood hätte man deutlich mehr getuschelt als über die längst vergangenen Sünden der Sippe Warden-McKenzie.
Schließlich befand man ein halbes Jahr als angemessene Verlobungszeit und rechnete die drei Monate an, die Charlotte schon auf Kiward Station verbracht hatte. Jack und Charlotte heirateten folglich im Frühling, gleich nach
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