Der Ruf der Kiwis
den Kopf. »Sie sind wohlauf. Verzeih, Lily, wenn ich dich erschreckt habe. Auch deinen Brüdern geht es gut. Es ist nur, dass ich allgemein sehr beunruhigt bin ... Ich glaube, ich mache im Moment nicht die intelligenteste Konversation.«
Er lächelte entschuldigend.
»Aber was ist dann ...?« Lilian stand noch immer und trat von einem Fuß auf den anderen.
»Du kannst dich setzen, Kind«, sagte Miss Arrowstone huldvoll.
Lilian ließ sich auf der Kante eines Besucherstuhls nieder.
George Greenwood nickte ihr zu. »Vielleicht freust du dich ja auch über mein Anliegen«, bemerkte er. »Obwohl deine Eltern mir sagten, dass du hier sehr glücklich bist. Das spricht für deinen Lerneifer und diese Schule ...« Ein weiteres Nicken, diesmal anerkennend und in Richtung Miss Arrowstone. Auf das Gesicht der Rektorin stahl sich der Ausdruck einer gestreichelten Katze. »Aber trotzdem habe ich den Auftrag, dich mit dem nächsten Schiff nach Hause zu bringen ...«
»Was?« Lilian fuhr auf. »Nach Hause? Nach Greymouth? Ausgerechnet jetzt? Aber warum? Ich ... ich meine, es ist doch nur noch ein Schuljahr ...« Und vor allem war da Ben. Um Lilian schien sich der Raum zu drehen.
»Hast du vom Attentat in Sarajewo gehört, Lilian?«, fragte George Greenwood. Er blickte Miss Arrowstone diesmal strafend an, als Lilian den Kopf schüttelte.
»Am 28. Juni. Der österreichisch-ungarische Thronfolger ist ermordet worden.«
Lilian zuckte die Schultern. »Das tut mir sehr leid für Österreich-Ungarn«, sagte sie höflich, aber weitgehend desinteressiert. »Und natürlich für die Familie seiner Kaiserlichen Hoheit.«
»Seine Frau wurde auch erschossen. Aber das nur nebenbei. Das Ganze mag dir sonderbar erscheinen, aber gut informierte Kreise in ganz Europa befürchten, dass es zum Ausbruch eines Krieges führen wird. Schon jetzt gibt es ein Ultimatum der Regierung Österreich-Ungarns gegen Serbien, die Attentäter vor Gericht zu stellen. Wenn das nicht passiert, wird man Serbien den Krieg erklären.«
»Und?«, fragte Lilian. Sie hatte nur ungefähre Vorstellungen von der Lage Serbiens und Österreichs auf der Landkarte, aber soweit sie wusste, waren beide Länder weit von Cambridge entfernt.
»Dadurch werden verschiedene Bündnisse aktiviert, Lilian«, meinte George. »Ich kann das hier nicht im Einzelnen erklären, aber es brodelt in vielen Teilen der Welt. Ist die Lunte erst entzündet, wird Europa brennen, womöglich die ganze Welt. Wobei es unwahrscheinlich ist, dass es Kämpfe in Australien und Neuseeland geben wird. Aber England halten deine Eltern und ich nicht für sicher, und das Meer erst recht nicht. Wenn der Krieg erst ausbricht, wird es auch Seeschlachten geben. Insofern möchten wir dich nach Hause bringen, bevor irgendetwas passiert. Vielleicht ist es übertriebene Vorsicht, wie deine Lehrerin hier meint ...«, George wies mit dem Kinn auf Miss Arrowstone,. »... aber wir möchten uns später keine Vorwürfe machen.«
»Ich möchte aber hierbleiben!«, fuhr Lilian auf. »Hier sind meine Freundinnen, hier ist ...« Sie wurde rot.
George Greenwood lächelte verschwörerisch. »Ist da womöglich schon ein kleiner Freund? Womöglich ein weiterer Grund, dich rasch nach Hause zu bringen?«
Lilian antwortete nicht.
»Nun, es ist jedenfalls egal, wie du dazu stehst«, bemerkte Miss Arrowstone mit schmalen Lippen. »Wie diesem Herrn und deinen Eltern auch meine Meinung über eine abgeschlossene Schulausbildung ziemlich gleichgültig zu sein scheint. Wenn ich Mr. Greenwood richtig verstanden habe, geht am 28. Juli ein Schiff von London nach Christchurch. Eine Passage für dich ist gebucht. Du wirst noch heute Abend mit Mr. Greenwood nach London reisen. Die Chorstunde brauchst du nicht mehr mitzumachen. Deine Freundinnen können dir packen helfen.«
Lilian wollte sich auflehnen, sah jedoch, dass es keinen Sinn hatte. Aber dann fiel ihr siedend heiß etwas ein.
»Und ... Gloria?«
»Was heißt das, es ist Krieg?« Elizabeth Greenwood balancierte ihre Teetasse zierlich zwischen zwei Fingern. Was das anging, war sie jeder Zoll eine Lady, auch wenn Helen O’Keefes Benimmunterricht inzwischen sechzig Jahre zurücklag.
Charlotte, ihre Tochter, nahm es nicht ganz so genau. Die junge Frau wirkte blass und nervös. Wie um sich zu wärmen schloss sie die Hände um das feine Porzellan. Der Krieg im fernen Europa interessierte sie nicht. Weit wichtiger für ihr persönliches Schicksal war der Termin bei Dr. Alistar
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