Der Ruf der Kiwis
küsste sie und schob sie mit sanfter Gewalt in die Kissen zurück. »Ich bringe dir das Essen ans Bett. Aber tu mir einen Gefallen und schieb es nicht auf das Wetter oder die Jahreszeit oder was auch immer. Das Wetter in den Canterbury Plains hat sich seit hundert Jahren nicht geändert. Nach wie vor regnet es im Winter praktisch jeden Tag, und im Sommer eigentlich auch. Wenn man davon Migräne bekäme, wäre ganz Canterbury krank. Du erholst dich jetzt, und dann fahren wir nach Christchurch. Wir besuchen deine Eltern, machen uns ein paar schöne Tage und gehen zu einem Arzt, der mehr von Kopfschmerzen versteht als unser Dorfdoktor. In Ordnung?«
Charlotte nickte. Im Grunde wollte sie nur in Ruhe gelassen werden. Sie liebte Jack, und seine Nähe wirkte beruhigend und lindernd auf ihre Schmerzen, jedes Gespräch strengte sie jedoch an. Ihr war auch jetzt schon übel, wenn sie ans Essen dachte, aber sie würde sich zusammennehmen und ein paar Bissen herunterbringen. Jack sollte sich nicht sorgen. Es genügte, dass sie sich sorgte.
Es sollte lange dauern, bis Lilian und Ben einander wiedersahen. Das Mädchen fieberte ihrem ersten Rendezvous entgegen. Allerdings fiel ihr am Tag nach dem Bootsrennen siedend heiß ein, dass sie keinen konkreten Termin ausgemacht hatten. Nun wusste sie nicht, wann Ben am Gartenzaun auf sie warten würde – oder ob er sie nicht gar vergessen hatte. Als der Sommer begann, ohne dass sich irgendetwas rührte, nahm Lilian Letzteres an. Aber dann fuhr ihre Freundin Meredith Rodhurst am Wochenende nach Hause und traf dort ihren Bruder Julius, den Cambridge-Studenten, den Lily beim Bootsrennen kurz kennen gelernt hatte. Zurück in Oaks Garden platzte sie fast vor Aufregung.
»Lily, denkst du noch an den Jungen, den du beim Picknick eingeladen hattest? Ben?« Lilians Herz schlug schneller, aber bevor sie irgendetwas sagte, zog sie Meredith entschlossen in die hinterste Ecke des Korridors vor den Klassenzimmern. Dieses Gespräch musste nicht jeder mitbekommen.
»Natürlich denke ich an Ben! Seit das Schicksal uns trennte, habe ich keine Minute verbracht, ohne von ihm zu träumen.«
Meredith prustete los. »Seit das Schicksal euch trennte!« Sie kicherte. »Du bist verrückt ...«
»Ich bin verliebt!«, erklärte Lilian würdevoll.
Meredith nickte. »Und er auch!«, erklärte sie. »Mein Bruder sagt, er kommt andauernd her und schleicht um unseren Garten wie ein verliebter Kater. Aber so wird das natürlich nie was, er müsste ja schon mehr als Glück haben, wenn er dich durch Zufall trifft.«
Lilians Gedanken arbeiteten fieberhaft. »Können wir uns nicht schreiben? Dein Bruder weiß doch seinen Nachnamen, und ...«
Meredith strahlte sie an. »Du brauchst ihm nicht zu schreiben. Du hast ein Rendezvous! Ich habe Julius gesagt, du triffst dich mit Ben. An der ›Fluchteiche‹, Freitag um fünf.«
Lilian fiel ihrer Freundin spontan in die Arme.
»Oh, Meredith, das vergess ich dir nie! Obwohl Freitag kein idealer Termin ist, da habe ich Chorstunde. Aber was soll’s, mir fällt schon was ein. Was soll ich bloß anziehen? Ich muss ... ich muss noch so viel vorbereiten ...«
Lilian schwebte davon. Sie würde den Rest der Woche damit verbringen, Pläne zu schmieden. Und Stunden zu zählen. Es war jetzt Montag, halb neun ...
Die Frage, mit welchen ihrer Freundinnen Lilian ihr großes Geheimnis teilen sollte, beschäftigte sie während der ersten beiden Tage. Sie hätte stundenlang über Ben und ihr Rendezvous reden können, aber das Risiko einer Entdeckung stieg natürlich mit jeder Mitwisserin. Schließlich weihte sie nur Hazel und Gloria ein, wobei es Letztere nicht sonderlich zu interessieren schien, mit wem ihre Cousine sich traf. Hazel dagegen zitterte mit ihr und half bei der sorgfältigen Auswahl von Kleidung und Accessoires. Bis Freitag um vier hatten sie fünf verschiedene Toiletten verworfen, und das sechste Kleid, das Lilian endlich als angemessen empfand, wies einen Flecken auf. Lilian war den Tränen nahe.
»Aber das kannst du doch ausbürsten«, meinte Hazel. »Lass mich mal! Weißt du inzwischen, was du Miss Beaver erzählst? Sie wird in die Luft gehen, wenn du die Chorstunde schwänzt!«
»Ich sag, ich hatte Kopfschmerzen«, meinte Lilian desinteressiert. »Oder am besten du bestellst es ihr. Ich neige neuerdings zu Migräne. Das ist eine praktische Krankheit, kommt wie angeflogen, immer wenn es gerade passt. Liegt bei uns in der Familie.«
»Wirklich?«, fragte
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