Der Ruf der Kiwis
Zeitung las, während er auf Lilian wartete, hatte ihm zwar eine junge Dame angekündigt, aber natürlich hatte er mit Lilian gerechnet. Ein bisschen früh zwar, aber vielleicht freute sie sich ja letztendlich doch auf die Reise.
Statt der zierlichen Rothaarigen im Reisekostüm stand jetzt jedoch eine erhitzte, etwas grobknochige Brünette vor ihm, deren blassblaue Schuluniform so gar nicht zu ihr passen wollte. Gloria Martyn war gewachsen, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte, aber sie hatte sich nur begrenzt gestreckt. Nach wie vor war sie kräftig gebaut; allerdings war sie George Greenwood niemals hässlich erschienen. Er kannte sie als glückliches Kind, geachtet und kompetent als künftige Erbin von Kiward Station, die auf der Schaffarm ungemein stolz »ihren Mann« stand, wie Gwyneira lachend ausgeführt hatte. George hatte das Mädchen auf dem Pferd gesehen, eine schneidige Reiterin. Er hatte fasziniert verfolgt, wie sie ihrem Halbgroßonkel Jack bei der Schafschur zur Hand ging und sogar damit betraut wurde, die Ergebnisse zu notieren, während Jack selbst am Wettbewerb der besten Scherer teilnahm. Gloria Martyn hatte sich dabei nie verrechnet und nie dazu hinreißen lassen, zu Jacks Gunsten zu schummeln. Sie war lebhaft und geschickt bei der Erledigung ihrer Aufgaben. Ihre Schüchternheit gegenüber Fremden und ihre manchmal linkische Art bei gesellschaftlichen Anlässen hatte George ihr da gern verziehen.
Das Mädchen, das jetzt vor ihm stand, hatte mit der selbstbewussten kleinen Reiterin und Hundeausbilderin allerdings nichts mehr gemein. Gloria wirkte blass und gehetzt. Ihre Schuluniform saß nicht nur schlecht, sondern war auch zerknittert und fleckig. Und in ihren Augen stand der Ausdruck eines verletzten, in die Enge getriebenen Tieres.
Gloria bemühte sich, nicht zu weinen, sondern den Zorn aufrechtzuerhalten, der sie zu dieser spontanen Aktion bewogen hatte. Lilys Bericht von Greenwoods Auftauchen, ihre Empörung über die Entscheidung ihrer Eltern und den Ärger über diesen »dummen Krieg«, der ihr das Stelldichein mit ihrem Ben verdarb – das alles hatte das Fass in ihr zum Überlaufen gebracht. Zum ersten Mal seit den Tagen mit Miss Bleachum verließ sie das Internat ohne Erlaubnis. Ohne auf ihre Kleidung zu achten, rannte sie durch den Park und schwang sich in den Baum, der Lily und anderen, unternehmungslustigeren Schülerinnen als »Fluchthelfer« diente. Auf der anderen Seite wartete der blonde Junge, nach dem Lilian so verrückt war. Ihm musste es ähnlich gehen – fünf Uhr war längst vorbei.
»Hast du eine Nachricht von Lily?«, fragte er begierig, als Gloria sich vor ihm zu Boden gleiten ließ. »Warum ist sie nicht gekommen?«
Gloria hatte keine Lust, sich mit ihm zu befassen.
»Lilian fährt heim«, erklärte sie kurz. »Es gibt Krieg.«
Ben bestürmte sie daraufhin mit tausend Fragen, aber sie hörte gar nicht hin, sondern eilte weiter ins Dorf. Sie hatte Lilian nicht gefragt, wo sie Greenwood finden würde, aber viele Möglichkeiten gab es da nicht. Wenn Onkel George nicht in der einzigen Pension abgestiegen war, die Sawston zu bieten hatte, konnte er nur in einem der beiden Pubs warten. Gloria fand ihn gleich im ersten.
»Es ist ungerecht!«, brach es jetzt aus ihr heraus. »Du musst mich mitnehmen, Onkel George! Vielleicht mag Jack mich ja nicht mehr, jetzt, wo er geheiratet hat, aber ich habe ein Recht, auf Kiward Station zu sein! Du kannst nicht Lilian mitnehmen und mich hierlassen. Das geht einfach nicht ...«
Glorias Augen füllten sich nun doch mit Tränen.
George fühlte sich überrumpelt. Er verstand sich auf harte Verhandlungen mit Handelshäusern in der ganzen Welt. Aber niemand hatte ihn auf weinende Mädchen vorbereitet.
»Nun setz dich doch erst mal, Gloria. Ich lasse dir einen Tee bringen. Oder lieber eine Limonade? Du siehst erhitzt aus.«
Gloria schüttelte den Kopf. Ihre wilden Locken befreiten sich dabei aus dem nachlässigen Nackenknoten, zu dem sie das Haar zusammengefasst hatte.
»Ich will keinen Tee und keine Limonade. Ich will Kiward Station!«
George nickte sanft.
»Das wirst du auch irgendwann bekommen, Gloria«, versuchte er sie zu beruhigen. »Aber vorerst ... was ist das für ein Unsinn mit Jack, Gloria? Natürlich mag er dich noch, und Miss Gwyn bat mich ausdrücklich, bei deinen Eltern zu intervenieren, als sie hörte, dass die Lamberts Lilian nach Hause holen. Ich kann dir ihre Depesche zeigen ...«
Glorias ohnehin schon
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