Der Ruf der Kiwis
scheu von Lilian abgewandt, rezitierte.
»Wenn du eine Rose wärest, würd mit dem Tau ich zu dir schwimmen.
Wärest du ein Blatt im Sturm, würde mit dem Wind ich für dich singen,
und ich würde dich erkennen, wer und was du wohl auch bist,
Lieder gern für dich ersinnen, bis im Traum du mich dann küsst.«
»Oh, wie schön!«, sagte Lilian seufzend. »So tief empfunden!«
Der Junge sah sie ängstlich an, entdeckte aber keinen Spott in ihrem jetzt verträumt wirkenden Gesicht.
»Es reimt sich auch richtig!«
Ben nickte. Seine Augen leuchteten.
Lilian schien wieder aus ihrem Traum zu erwachen. »Aber jetzt haben Sie mich geduzt!«, sagte sie neckisch. »Wie alt sind Sie eigentlich?«
Ben errötete schon wieder. »Fast fünfzehn«, sagte er.
Lilian lächelte. »Ich auch! Das ist ein Zeichen!«
Ben sah es jetzt auch. »Das ist ein Zeichen. Wollen Sie ... willst du ... mich wiedersehen?«
Lilian senkte züchtig den Blick. »Das ginge nur heimlich«, sagte sie zögerlich. »Ihr dürft vielleicht aus dem College raus, aber ich ...«
»Weißt du denn keinen Weg?«, fragte Ben schüchtern. »Ich meine, wenn es gar nicht geht ... ich könnte dich ja Samstag abholen und sagen, ich wäre dein Cousin oder so.«
Lilian lachte. »Das würde bloß keiner glauben.« Sie überlegte, ob sie Ben von ihrer Herkunft aus Neuseeland erzählen sollte, sah dann aber erst mal davon ab. Sie wollte mit dem Jungen nicht über Kohle- und Goldminen, Walfang und Schafzucht reden, und was den Leuten sonst noch zu Neuseeland einfiel. Vor allem wollte sie nicht über ihre Verwandtschaft mit Kura-maro-tini Martyn sprechen. Wie Gloria hatte auch Lilian längst herausgefunden, dass eine Erwähnung dieser Berühmtheit jedes Interesse an ihrer eigenen Person erlahmen ließ. Sie hatte sich angewöhnt, das Thema geschickt zu umgehen, was Gloria zu ihrer Verwunderung nie gelang.
»Aber ich weiß einen Weg, keine Sorge. Wenn du vom Portal unserer Schule aus eine viertel Meile südwärts am Zaun entlanggehst, kommst du an eine riesige Eiche. Ihre Zweige hängen über dem Zaun, man kann leicht rüberklettern. Da wartest du auf mich. Du kannst mir beim Klettern helfen«, fügte sie dann noch kokett hinzu. »Aber du darfst mir nicht unter den Rock gucken!«
Ben errötete wieder, war nun aber eindeutig verzaubert. »Ich komme«, meinte er atemlos. »Aber es wird ein bisschen dauern. Jetzt muss ich ja erst nach London, als Reserve-Ruderer werde ich sicher eingeteilt ...«
Lilian nickte. »Ich kann warten«, sagte sie ernst – und fand das im Stillen besonders romantisch. »Aber ich glaube, wir müssen jetzt wirklich zurück zu den anderen. Hazel wird mich vermissen, und so neidisch wie sie war, steckt sie es bestimmt Miss Beaver, dass ich überfällig bin.« Resolut drehte sie sich um, doch Ben hielt sie auf.
»Warte noch einen Moment. Ich weiß, es schickt sich nicht so ganz, aber ... ich muss dir gerade noch in die Augen sehen. Ich versuche es schon den ganzen Nachmittag, aber ich möchte nicht starren. Und so konnte ich es nicht genau erkennen. Sind sie grün oder braun?«
Ben legte Lilian linkisch die Hände auf die Schultern und zog sie etwas näher an sich heran. Er hätte ihr nie gestanden, dass er gewöhnlich eine Brille trug.
Lily lächelte und schob ihren breiten Hut zurück. »Sie sind manchmal grün, manchmal braun, irgendwie gesprenkelt, wie ein Taubenei. Wenn ich lustig bin, sind sie grün, wenn ich traurig bin, braun ...«
»Und wenn du verliebt bist?«, fragte Ben.
Er sollte es an diesem Nachmittag nicht mehr herausfinden. Lilian schloss die Augen, als er sie küsste.
3
»So kann es doch nicht weitergehen, Charlotte! Selbst Rongo Rongo meint, du solltest einen Arzt in Christchurch aufsuchen.«
Jack hatte lange gezögert, Charlotte auf ihre ständigen Kopfschmerzen anzusprechen, aber als er nach einem langen Arbeitstag nach Hause kam, fand er sie wieder schmerzgeplagt in einem verdunkelten Zimmer. Sie hatte einen Wollschal um ihren Kopf gebunden und ihr Gesicht wirkte blass, abgehärmt und verzerrt.
»Es ist Migräne, Liebster«, schwächte sie ab. »Du weißt doch, das habe ich immer mal wieder ...« »Das hast du jetzt zum dritten Mal in diesem Monat«, meinte Jack. »Das ist viel zu oft!« »Das Wetter, Liebster ... Aber ich kann aufstehen. Zum Essen komme ich herunter, bestimmt. Es ist nur ... mir wird immer so leicht schwindelig.« Charlotte versuchte, sich aufzusetzen.
»Bleib liegen, um Himmels willen!« Jack
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