Der Ruf der Kiwis
Tamatea den Tänzern in fünf Minuten beigebracht. Und im Vordergrund erzählen die Geister die Geschichte, die der Ballade zugrunde liegt. Erst ein Musikstück für Piano und
picorino
– nur die Geisterstimme, ganz ätherisch – und dann Piano und Gesang. Ich würde es zu gern morgen schon zur Aufführung bringen. Es wäre so etwas wie ein würdiger Abschluss, aber auch appetitanregend auf Neues. Die Leute sollen ja wieder in meine Show kommen, wenn wir aus den Staaten zurück sind. Aber gerade jetzt ist Marisa nicht abkömmlich. Dabei müsste ich zumindest den Flötenpart ein paar Mal üben, man muss da oft etwas anpassen, du verstehst, was ich meine, nicht wahr, Glory?«
Gloria verstand praktisch nichts, außer dass ihre Mutter offensichtlich von ihr erwartete, Marisa zumindest bei den Proben zu ersetzen.
»Spiel du doch eben den Klavierpart für mich ein, ja, Glory? Hier sind die Noten, setz dich. Es ist ganz einfach.«
Kura schob Gloria den Klavierschemel zurecht und nahm selbst die kleine Flöte zur Hand, die auf dem Flügel gelegen hatte. Gloria blätterte ein wenig hilflos in dem handgeschriebenen Notenstapel.
Inzwischen hatte sie seit fünf Jahren Klavierunterricht, und an der Fingerfertigkeit sollte es nicht mangeln. Wenn sie lange genug übte, schaffte sie auch recht schwere Stücke, doch es war immer eine Fleißarbeit. Vom Blatt gespielt hatte Gloria noch nie. Bislang pflegte ihre Musiklehrerin ihr die Übungsstücke vorzuspielen, sie auf Klippen hinzuweisen und dann Takt für Takt mit ihr zu erarbeiten. Bis es so klang wie bei Miss Beaver dauerte es Wochen.
Dennoch wagte sie nicht, jetzt einfach abzulehnen. Mit dem verzweifelten Willen, ihrer Mutter zu gefallen, kämpfte sie sich durch das Musikstück. Kura hörte ziemlich fassungslos zu, unterbrach sie aber nicht, bevor sie an einem Takt zum dritten Mal scheiterte.
»Ein Fis, Gloria! Siehst du nicht das Kreuz vor dem F? Der Akkord ist ganz gängig, den musst du doch schon mal gespielt haben! Mein Gott, stellst du dich so dumm, oder bist du wirklich untalentiert? Dagegen war ja selbst deine Tante Elaine gottbegnadet!«
Elaine hatte Kura bei ihrem allerersten Konzert in Blenheim begleitet, und auch sie hatte viel üben müssen, um den Vorstellungen der Vollblutmusikerin auch nur halbwegs gerecht zu werden. Wobei Elaine durchaus musikalisch war – im Gegensatz zur hoffnungslosen Gloria.
»Versuch es noch mal!«
Gloria, inzwischen völlig verunsichert, begann von vorn, kam diesmal halbwegs sicher über die ersten Takte und blieb dann erneut stecken.
»Vielleicht, wenn du es mir einmal vorspielst ...?«, fragte sie hilflos.
»Warum soll ich es dir vorspielen? Kannst du nicht lesen?« Kura wies auf die Partitur. Sie war nun wirklich verärgert. »Himmel, Mädchen, was machen wir bloß mit dir? Ich dachte, ich könnte dich auf dieser Tournee als Korrepetitorin einsetzen, Marisa kann das nicht alles allein machen. Die Einführung von neuen Tänzern zum Beispiel, dazu ist sie auch überqualifiziert. Aber so ... Geh jetzt auf dein Zimmer. Ich werde die Rezeption anrufen. Dies hier ist London, die Stadt hat eine Oper, tausend Musiktheater ... da wird sich doch ein Pianist finden, der mir kurzfristig unter die Arme greift. Und du wirst zuhören, Gloria! Deine Lehrer im Internat haben die Ausbildung offensichtlich schleifen lassen. Und du mochtest ja nie sehr viel üben ...«
Kura vergaß, dass sie Gloria noch gar kein Zimmer angewiesen hatte. Während ihre Mutter telefonierte und aufgeregt in den Hörer sprach, schlich das Mädchen durch die Suite, bis sie schließlich einen Raum mit einem Einzelbett fand. Sie warf sich darauf und weinte. Sie war hässlich, nutzlos und dumm. Gloria hatte keine Ahnung, wie sie die folgenden sechs Monate überstehen sollte.
Charlotte McKenzie brauchte zwei Tage, um sich von der Überfahrt von Blenheim nach Wellington zu erholen. Jack tat sein Bestes, die Reise zu einem schönen Erlebnis werden zu lassen, und Charlotte bemühte sich, die Ausflugsziele zu genießen, die er dabei ansteuerte. Sie aß Hummer in Kaikoura und tat, als interessiere sie sich wirklich für die Wale, Robben und Delfine, die man dort von kleinen Booten aus beobachten konnte. Ihre Kopfschmerzen in Blenheim führte sie auf den ungewohnten Alkohol bei der Weinprobe zurück, zu der eine befreundete Familie sie einlud. Gwyneira McKenzie hatte den Burtons vor vielen Jahren eine Herde Schafe verkauft, und Jack, damals noch ein Junge, hatte
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